Zum 70. Geburtstag von William Kentridge präsentieren das Museum Folkwang und die Staatliche Kunstsammlungen Dresden in einem Gemeinschaftsprojekt die große Retrospektive Listen to the Echo. Der Titel lädt zum bewussten Nachspüren der Vergangenheit ein und fordert zu Offenheit für Resonanz auf. Die Ausstellung William Kentridge, Listen to the Echo, 04.09.2025 - 18.01.2026 im Museum Folkwang präsentiert 160 Exponaten aus mehr als vier Jahrzehnten. Die Ausstellungen in Dresden besuchen wir im November 2025.
William Kentridge (*1955 in Johannesburg) gehört weltweit zu den renommiertesten zeitgenössischen Künstlern. International bekannt wurde er Ende der 1980er Jahre durch seine animierten Kurzfilme, in denen Kentridge sich kritisch, zugleich aber auch sehr poetisch mit der Vergangenheit und Gegenwart Südafrikas auseinandersetzt [Biografie]. Diese Filme, die auf großformatigen Kohlezeichnungen basieren, bilden den Ausgangspunkt für ein umfangreiches Œuvre, das Zeichnung, Druckgrafik, Tapisserie und Skulptur ebenso umfasst wie Operninszenierungen und multimediale Bühnenstücke. In seinen inhaltlich miteinander verwobenen Werken thematisiert Kentridge immer wieder die Frage nach Gerechtigkeit, aber auch das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft.
Einen Schwerpunkt bilden die Filme der Reihe Drawings for Projection, in denen Aufstieg und Niedergang von Johannesburg ebenso zur Sprache kommen wie das schwierige Erbe der Apartheid. Auch Kentridges Beschäftigung mit dem Kolonialismus europäischer Mächte in Afrika spielt in der Ausstellung eine wichtige Rolle, insbesondere in der Zeichnungsserie Colonial Landscapes, den Porter-Tapisserien oder der mechanischen Miniaturbühne Black Box/Chambre Noire.
William Kentridge konzipiert seit vielen Jahren eigene Stücke für das Musiktheater, die er zu multimedialen Werken weiterentwickelt, darunter To Cross One More Sea, eine Dreikanal Filminstallation über die Flucht von Künstler:innen und Intellektuellen per Schiff vor dem Naziregime. Kentridge tritt auch selbst in seinen Filmen in Erscheinung. Die Filmserie Self Portrait as a Coffee-Pot gibt auf amüsante Weise tiefe Einblicke in sein Denken und in sein Studio als Ort kreativer künstlerischer Praxis.
Quelle des Einleitungstextes: Ausstellungsflyer, Museum Folkwang mit Verlinkungen und Ergänzungen des Autors in eckigen Klammern.
Besuch der Ausstellung im Museum Folkwang
Am Morgen sind wir um 10:00 Uhr zunächst die einzigen Besucher der Sonderausstellung Listen to the Echo und befinden uns gegenüber Aufsichtspersonen in der Unterzahl. Fehlendes Gedränge kann uns nur Recht sein, aber das trotz Medienberichte auffällig geringe Interesse empfinden wir als erstaunlich und bemerkenswert. Kunstmuseen besuchen gewöhnlich nur bildungsaffine Menschen des
bürgerlichen Establishments und interessieren sich für Kultur etablierter musealer Klassik, die den eigenen sozialen Status bestätigt. Kentridges
Arbeiten sind sperrig und weder als Dekorationen noch als Meditationsvorlagen tauglich, sondern regen als provozierende Statements zum Nachdenken über Absurditäten und
Widersprüche von Zuständen und Prozessen der Welt an. Anscheinend neigen Menschen des Establishments dazu, Wahrnehmungen kulturkritischer Statements zu vermeiden oder Kulturkritik als Belästigung zu empfinden. Der Sachverhalt des geringen Interesses vermittelt einmal mehr, wie schwer es Kunst der Gegenwart generell in öffentlicher Wahrnehmung hat und wie noch deutlich schwerer sie es hat, wenn sie politisch und kulturkritisch aufgeladen ist.
Dieser Post beabsichtigt keine kulturkritische Abrechnung und versucht nicht, den Besuch der Ausstellung umfassend zu dokumentieren, sondern er möchte zum Verständnis des komplexen präsentierten Werks beitragen und auf eine Ausstellung aufmerksam machen, die auch auf internationalem Niveau neben der Retrospektive anlässlich des 80. Geburtstags von Anselm Kiefer als Highlight des Jahres 2025 zu werten ist. (Den Besuch der Kiefer-Ausstellung beschreibt der Post "Sag mir wo die Blumen sind" - Retrospektive in Amsterdam anlässlich Anselm Kiefers 80. Geburtstag.) In dieser Dichte und Qualität waren William Kentridges Arbeiten aus 40 Jahren bisher noch nie zu sehen und werden auf unabsehbare Zeit nicht mehr zu sehen sein. Weil der Ausstellungskatalog sicherlich hilfreich für das Verständnis ist, sind wir entschlossen, den Katalog zum Preis von 38 € zu erstehen. Im Museum ist jedoch aktuell nur die englische Ausgabe verfügbar, deren Lektüre für uns zu mühsam ist. Für September 2025 ist eine deutsche Ausgabe angekündigt, die wir inzwischen vom Verlag beziehen konnten.
Anmerkungen zum Verständnis des Werks
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Drawing for Self-Porträt as a Coffee-Pot (Private Thoughts), 2021 |

Kentridges Haltung und Motivation
Der bedeutendste Schlüssel zum Werk ist William Kentridges soziales, politisches, kulturelles Engagement für Menschenrechte. Egoismus und Selbstgenügsamkeit widerstreben ihm. Seine künstlerische Arbeit nimmt politische Positionen gegen Apartheid, Armut, Rassismus, Menschenrechtsverletzungen ein, aber er engagiert sich auch persönlich in zahlreichen politischen Projekten für humanitäre soziale und kulturelle Ziele. (DW, 03.09.2025: William Kentridge: Kunst für Menschenrechte)
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Casspirs Full of Love, 1989 (Casspirs waren gepanzerte Fahzeuge, die gegen die schwarze Bevölkerung eingesetzt wurden.) |
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Art in a State of Siege (im Zustand von Belagerung), Art in a State of Hope (im Zustand von Hoffnung), Art in a State of Grace (im Zustand von Anmut), 1988 |
Druckgrafiken links und rechts hat William Kentridge kurz vor dem Ende der Apartheid erstellt. Sie klagen die Absurdität einer im Luxus lebenden weißen Bevölkerung an, deren Minderheit weniger als 10 % beträgt und die Majorität ausbeutet und unterdrückt. Seit 1985 galt der Ausnahmezustand. Proteste der schwarzen Bevölkerung wurden mit Gewalt, Folter, politischen Morden bekämpft. Etliche Townships waren von Militär besetzt. Militär und Sicherheitsdienste wurden massiv ausgebaut sowie mit biologischen und chemischen Waffen aufgerüstet und bestimmten die Politik. Aufstände waren teilweise inszeniert, um gegen schwarze Bevölkerung vorzugehen. Links demonstrieren sieben abgetrennte, gestapelte Köpfe von Schwarzen neben Szenen des gesellschaftlichen weißen Lebens groteske Gegensätze zwischen unterdrückter schwarzer Bevölkerung und luxuriös lebender weißer Bevölkerung. Der Bildtitel zitiert eine Radiosendung, in der eine Mutter ihrem militärischem Sohn Casspirs Full of Love wünschte. Die rechte Grafik stellt Fragen nach der Rolle und Haltung von Kunst, die trotz der sozialen Realität in Südafrika eine ausbeuterische, gesellschaftliche Probleme ignorierende Machtelite mit romantischen und lyrischen Kompositionen bedient. Der Bildtitel verweist auf drei unterschiedliche künstlerische Haltungen, deren Absurdität Bildelemente zeigen. (Die Deutung zitiert Bildbeschreibungen von Stepanie Buck, Katalog Listen to the Echo, Jenseits der Eindeutigkeit, S. 41f.)
Projekte und Produktionsumgebung
William Kentridge verfügt sicherlich über einen außergewöhnlich
kreativen Kopf, der unermüdlich neue Ideen generiert. Labor und
Werkstatt der unter seinem Namen veröffentlichten Arbeiten ist jedoch
kein Atelier, sondern das Kentridge Studio in Johannesburg (Online-Portal Kentridge Studio
in deutscher Übersetzung). Veröffentlichte Arbeiten sind keine Produkte
einer One-Man-Show, sondern Ergebnisse kollaborativer Projekte, in
denen zahlreiche feste und temporäre Mitarbeiter mit Künstlerkollegen
und Produktionspartnern zusammenarbeiten. William Kentridge ist der
Katalysator für gemeinsam einzubringende Ideen aus allen denkbaren
kreativen Disziplinen von Malerei, Skulptur, Druckgrafik, Tapisserie,
Musik, Tanz, Schauspiel, Film bis zu Sprache, Literatur, Philosophie.
Beteiligte nehmen im Rahmen der Projekte gemeinsam Einfluss auf die
Gestaltung von Arbeiten. Diese zeigen keine empirische Realität.
Darstellungen wechseln oft unvermittelt zwischen Augenzwinkern über
Ironie bis zu Anklage und zeigen eine aus den Fugen geratene chaotische
Zwischenwelt, die Leben zur Absurdität verzerrrt, aber Leben nicht
verhindert und Alternativen nicht ausschließt.
Als eines von zahlreichen Projekten des Studios hat Kentridge 2016 gemäß südafrikanischem Sprichwort "If
the good doctor can’t cure you, find the less good doctor" (Wenn der
gute Arzt Sie nicht heilen kann, suchen Sie sich einen weniger guten
Arzt) das Centre for the Less Good Idea (Zentrum für die weniger gute Idee)
gegründet. Das Zentrum experimentiert mit neuen Ideen und entwickelt
spielerisch spontane Kurzprojekte. Im Zeitraum zwischen 2016 und 2023
hat das Zentrum mit mehr als 800 Künstlern aller Disziplinen ca. 500
Performances, Filme und Installationen erarbeitet. Seit 2020 baut das
Projekt SO | The Academy for the Less Good Idea diese Idee systematisch als kreatives kulturelles Konzept über Südafrika hinaus international aus.
Filmprojekte, Gesamtkunstwerke, Techniken
Für die
Realisierung von Projekten hat das Filmmedium eine nicht zu überschätzende Bedeutung. Mithilfe dieses Mediums orchestriert das
Kentridge Studio gestalterische Elemente in seinen Projekten zu dichten
Gesamtkunstwerken. Gesamtkunstwerke der Projekte reichert das Medium
zusätzlich mit filmspezifischen Elementen wie Trickaufnahmen,
Überblendungen, Bewegungs- und Lichteffekten an. Die Arbeitsweise des
Kentridge Studios erinnert an den kürzlich verstorbenen genialen
US-amerikanischen Theaterregisseur Robert Wilson. Wir hatten das, bis heute nur wenig verblasste, außerordentliche Vergnügen, 1985 den deutschen Teil des Gesamtkunstwerks The Civil WarS: A Tree Is Best Measured When It Is Down (automatische
Übersetzung eines Wikipedia-Artikels aus dem Englischen) live zu
erleben und fühlen uns von der Aufführung noch immer berührt. Im
Unterschied zu William Kentridge war Robert Wilson jedoch ein Mann des
Theaters ohne explizite politische, pädagogische, philosophische
Ansprüche.
In bis zu 30 Minuten langen Kurzfilmen verbindet Kentridge Schauspiel,
Schattenspiel, Musik, Tanz, Trickfilm oft in Mehrkanaltechnik mit
Überblendungen zu opernartigen Gesamtkunstwerken, von denen die Essener
Ausstellung Listen to the Echo mehrere präsentiert. Kentridge verwendet altmodische Techniken, die an expressionistische Stummfilme erinnern. Seine Filme bezeichnet Kentridge als Drawings for Projection (Zeichnungen zur Projektion). Projections beginnen gewöhnlich mit einem Bühnebild als Setting einer Szene. Für Szenen erstellt er Scherenschnitte sowie Zeichnungen mit Kohle auf Papier, die er zu Collagen montiert und in seinen Projections in
Stop-Motion-Technik zu Trickfilmen animiert.
Kohlezeichnungen entstehen in einer speziellen Technik, bei der Kentridge erstellte Kohlezeichnungen löscht, überarbeitet, fotografiert und als bewegtes Bild projiziert. Spuren der Löschung bleiben sichtbar und legen sich schichtweise übereinander. In dieser Art des Filmens bewegen sich nicht alle Elemente, sondern es findet immer nur eine Aktion statt. Um einen Ablauf als Bewegung umzusetzen, werden 24 Bilder pro Sekunde
bzw. 1440 Bilder pro Minute und pro Blatt Tage bis Wochen benötigt. Die Erstellung eines Films dauert bis zu einem Jahr. Ein sechsminütiger Film enthält bis zu zehn verschiedene Bühnenbilder,
die als Blätter mit allen Spuren übrigbleiben und als Relikte des
Prozesses an Museen und Sammler gehen. Neben den Filmen erstellt
Kentridge mit Motiven der Filme druckgraphische Serien, die zur
Verbreitung gedacht sind, d.h. es bestehen zwei Arten von Zeichnungen als Drawings for Projection.
Betrachter von Filmen sehen die Geschichte ihrer Entstehung als Arbeitsprozess, sodass der Prozess selbst an der Erzählung der Geschichte beteiligt ist.
Filmmusik
Ein
bedeutendes tragendes Element der Filme ist Musik. Filmmusiken basieren
auf im britischen Kulturraum in der Arbeiterschicht populärer Musik von Brassbands
("Blechkapellen"), die keine feinsinnigen hochkulturellen musikalischen
Kunstwerke zelebrieren, sondern rhythmisch animierend aufwecken und
tänzerisch mitreißen möchten. Seit 1993 arbeitet William Kentridge mit
dem südafrikanischen Komponisten Philip Miller zusammen, der die Musik zu etlichen Filmprojekten beisteuert, u.a. zu The Refusal of Time (Wiedergabe der Tracks). Filmmusik erinnert teilweise an Kompositionen des US-amerikanischen Komponisten Philip Glass sowie an das Projekt Escalator over the Hill (1967-1971) der US-amerikanischen Musikerin und Komponistin Carla Bley,
das 1997 zum ersten Mal live aufgeführt wurde. Die Uraufführung haben
wir erfreulicherweise in der Kölner Musikhochschule erlebt. Dass Philip
Miller dieses Werk kennt, ist nicht belegt, aber es würde uns wundern,
wenn es nicht so wäre.
Schlussfolgerungen
Projekte des Kentridge Studios erlauben mehrere allgemeine Feststellungen:
- Ähnlich wie in Malerei und Musik sind keine der in Projekten verwendeten Elemente wirklich neu, aber überraschend origenell ist die kreative multikulturelle und multimediale Art der Kompilierung zu aufregenden Gesamtkunstwerken.
- Kentridge vertritt offensichtlich die Auffassung, dass Kunst nicht zum Selbstzweck existiert, sondern für Menschen nützliche Aufgaben übernehmen sollte.
- Arbeiten des Kentridge Studios können im Sinne von Joseph Beuys als auf Gesellschaft einwirkende soziale Plastiken verstanden werden. Im Unterschied zu Joseph Beuys verfolgt William Kentridge keine esoterischen antroposophischen Ziele, sondern politische Ziele einer gerechteren Welt.
- Projekte des Kentridge Studios setzen sich mit Missständen unserer sozialen und politischen Welt kritisch auseinander. An Projekten Beteiligte beziehen aus der Zusammenarbeit und der kritischen Auseinandersetzung mit Phänomenen der Welt positive Lebensenergie und gewinnen Zuversicht und Mut für Verbesserungen dieser Welt, die auf Rezipienten der Werke ausstrahlt und Hoffnung vermittelt.
- Aus Interviews und aus seinen Arbeiten erschließt sich Kentridges erkenntnistheoretische Sicht. Wissen über die Welt bezieht sich nicht auf vermeintlich objektive empirische Phänomene. Wissen besteht aus Konstrukten, die dazu verhelfen, Chaos der Welt zu ordnen, um im Chaos leben zu können. Wissenskonstrukte entstehen aus Gründen von Nützlichkeit. Bewertungen von Nützlichkeit sind jedoch nicht für alle Menschen identisch. Wer über Macht verfügt, bestimmt Deutungen der Welt als nützliche Wahrheiten. Nützlichkeit von Wissenskonstrukten basiert auf asymmetrischer Verteilung von Macht und erzeugt Verteilungen von Gewinnern, Verlierern und Opportunisten. Als Angehöriger des Bildungsbürgertums der weißen Rasse ist Kentridge geborener Opportunist. Wie bereits sein Vater, jedoch mit anderen Methoden, setzt sich Kentridge für Verlierer ein und klagt Gewinner an. Das Ansehen seiner Kunst bewahrt ihn davor, zwischen Mühlsteinen von Macht zerrieben zu werden.
Anmerkungen zu Symbolen
Arbeiten
des Werks von William Kentridge sind vollständig von vielschichtigen
Symbolen mit teilweise historischen und mythologischen Bezügen
durchdrungen. Zu nennen sind immer wieder verwendete Symbole wie
Megafone, Zirkel, Stative mit Messinstrumenten,
Bohrtürme, Schiffe, Boote, Gewehre, Kanonen, Leitern, Bäume, Laub,
Papierblätter, Bücher etc.
In der sozialen Realität ist das Leben völlig
von Symbolen durchdrungen, die aber als Symbole nicht bewusst werden,
solange ihre Bedeutung aufgrund von Sozialisationsprozessen in
kulturellen Kontexten als vermeintliche Selbstverständlichkeit bekannt
ist. Dagegen besteht zwischen europäischer und afrikanischer Kultur eine
erhebliche, nur mit explizitem Wissen zu überwindende kulturelle Kluft.
William Kentridge lebt als Südafrikaner in zwei Welten und vermag
Verbindungen herzustellen. Für eurozentrische Betrachter resultiert aus
dieser Kluft eine Komplexität, deren Entschlüsselung sich nicht für
Kurzbetrachtungen eignet und daher hier ausgeklammert bleibt.
Schlüsselsymbole erschließen das Werk, aber Deutungen von Symbolen sind ein spezielles, schwieriges
Thema. Symbole verleiten zu Verwechslungen mit Zeichen und zu Irrtümern
von Deutungen. Im Unterschied zu 'nackten' Zeichen stehen sichtbare Attribute von Symbolen in keinem
direkten Bezug zu Dingen, auf die sie zu verweisen scheinen. Als Zeichenmuster, Ritual, Handlung etc. enthalten sie nicht unmittelbar sichtbare kulturell konnotierte Überschussbedeutungen mit Verbindungen zu nicht
sichtbaren und meistens nicht bewussten und nicht explizit definierbaren
komplexen kulturellen Konzepten. Kulturell konnotierte Bedeutungen sind nicht in Stein gemeißelt, sondern variieren räumlich und zeitlich über soziale Kontexte.
Verständlicher
wird die abstrakte Beschreibung anhand des Beispiels Geld bzw.
Zahlungsmittel. Geld ist ein typisches, mit Bedeutungsüberschuss
aufgeladenes Symbol ohne eigenen Wert. In unterschiedlichen Kulturen
kursieren unterschiedliche Zahlungsmittel mit unterschiedlichen symbolischen Werten. In indigenen Kulturen garantieren überlieferte
Traditionen den Wert von Zahlungsmitteln. In modernen Kulturen der
Gegenwart garantieren vertrauenswürdige politische Institutionen den
Wert. Wenn in der Moderne Vertrauen nachlässt, flüchten Menschen mit
Geld in werthaltige Sachmittel, Gold, Immobilien, Kunst, Oldtimer etc. oder transferieren ihr Geld in stabilere Länder. Werthaltigkeit von Sachmitteln erfordert zwar ebenfalls Vertrauen und
ist ebenfalls kulturabhängig, aber langfristige Erfahrungen vermitteln, dass Sachwerte weniger volatil als Geld oder andere Länder politisch stabiler sind und daher Verluste unwahrscheinlicher werden.
Noch deutlicher, aber auch abstrakter, wird der Charakter von Symbolen, wenn verstanden wird, dass Sprache als ein System symbolischer Repräsentation von kommunikaten Inhalten aufzufassen ist. Sprache verstehen wir nur, wenn wir sie erlernt haben, aber erlernte Sprachmuster schützen uns nicht vor Missverständnissen kulturell spezifischer Feinheiten. Um Missverständnisse zu vermeiden, müssen wir zusätzlich spezifische Kulturmuster lernen.
Fotos der Ausstellung im Museum Folkwang
Dieser Post zeigt eine Auswahl der bei unserem Besuch aufgenommenen Fotos aus 11 Werkgruppen in bescheidener Smartphone-Qualität. Das komplette Album ist hier zu sehen: Fotoserie
Kohlezeichnungen aus Videoprojektionen der Reihe Drawings for Projection, 1989-2020
Kentrige Studio: Drawings for Projection
Die Kurzfilme Mine und City Deep des zehnteiligen Zyklus Drawings for Projection handeln vom Aufstieg und Niedergang der Montanindustrie in Johannesburg, die mit ähnlichen Entwicklungen des Ruhrgebiets vergleichbar ist.
The Black Box / Chambre Noir, 2005
Kentrige Studio: Black Box / Chambre Noir
Die
mechanische Guckkastenbühne des Projekts erinnert an den Völkermord an
ca. 100.000 Afrikanern vom Stamm der Hereo und Nama durch deutsche
"Schutztruppen" in Deutsch-Südwestafrika (Namibia). Kommandeur der "Schutztruppen" war der preußische Infanterie-General Lothar von Trotha. Trothas Kriegsführung gegen den Aufstand der Stämme der Heroro und Nama zielte mit Unterstützung des Kaisers Wilhlem II. auf Vernichtung der Stämme ab.
In Deutschland waren und sind teilweise noch immer Gerüchte von guten deutschen Soldaten und ihrem menschlichen Umgang mit Einheimischen verbreitet. In der Realität erließ General von Trotha am 2.10.1904 eine als „Vernichtungsbefehl“ bekannt gewordene Proklamation an das Volk der Herero, die anschließend umgesetzt wurde (Wikipedia: Völkermord an den Herero und Nama):
„Ich der große General der Deutschen Soldaten sende diesen Brief an das Volk der Herero. Die Hereros sind nicht mehr deutsche Untertanen. Sie haben gemordet und gestohlen, haben verwundeten Soldaten Ohren und Nasen und andere Körperteile abgeschnitten, und wollen jetzt aus Feigheit nicht mehr kämpfen. Ich sage dem Volk: Jeder der einen der Kapitäne an eine meiner Stationen als Gefangenen abliefert, erhält 1000 Mark, wer Samuel Maharero bringt, erhält 5000 Mark. Das Volk der Herero muss jedoch das Land verlassen. Wenn das Volk dies nicht tut, so werde ich es mit dem Groot Rohr[40] dazu zwingen. Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück, oder lasse auf sie schießen. Das sind meine Worte an das Volk der Herero. Der große General des mächtigen Deutschen Kaisers“


Handgewebte Mohair-Tapisserien der Serie Porter (Träger), 2001-2007, nach Collagen von William Kentridge
Die Projekte Porter und Kaboom! beziehen sich auf den Einsatz von 1,5-2 Millionen angeworbenen und zwangsrekrutierten Afrikanern als Lastenträger während des 1. Weltkriegs durch kriegsführende Kolonialmächte (Großbritannien, Belgien, Deutschland, Portugal). Soldaten hatten 1-3 Träger,
Offiziere bis zu 9 Träger. Mindestens 200.000 Lastenträger starben. Je nach Quelle unterscheiden sich Zahlen deutlich, weil die Historie nie systematisch aufgearbeitet wurde. Systematisch erforscht ist nur die Geschichte des britischen Trägerkorps. Weitgehend unerforscht sind jedoch auch hier sich bis in die Gegenwart erstreckende traumatische Folgen dieser Ereignisse im süd- und ostafrikanischem Kulturraum.
Von Namibia erhobene Forderungen der Wiedergutmachung und seit seit Jahrzehnten zwischen Deutschland und Namibia stattfindende Gespräche über Aussöhnung gehen auf die Ereignisse zurück (BPB: Völkermord an Herero und Nama: Abkommen zwischen Deutschland und Namibia)
Der in Südafrika ausgetragene Ultramarathon Comrades entstand als Erinnerung an das Leiden der Träger.
Wikipedia: Träger in Ostafrika im Ersten Weltkrieg - DW, 15.04.2015: Afrikas vergessenes Leid - SZ, 10.08.2018: Kanonenfutter -
Welt, 29.01.2023: Die Briten haben die afrikanischen Träger wie Güter behandelt“
Fotos der Dreikanal-Filmprojektion Kaboom (Lastenträger), 2018
Das im unterern Foto dargestelle Schiff bezieht sich auf ein 1913 als Graf Goetzen
bei der Meyerwerft Papenburg als Frachtschiff für den Einsatz
auf dem Tanganjikasee in Afrika gebautes Motorschiff. Um das Schiff von
Daressalam über Land zum Tanganjikasee zu transportieren, wurde
es modular als Baukasten zusammenschraubbar entwickelt, bereits in Deutschland
auseinandergenommen und in 5000 Holzkisten mit 800 t Gesamtgewicht verpackt. Nach dem Transport auf dem Seeweg nach Daressalam wurden die Kisten per Eisenbahn über 1200 km in das Landesinnere verfrachtet. Da die
Eisenbahnlinie 35 km vor dem Ziel endete, transportierten Träger die Teile in drei Monaten über die Reststrecke durch den Dschungel. Am Tanganjikasee wurde das Schiff zusammengesetzt. Nach Ausbruch des 1. Weltkrieg erfolgte ein Umbau der Graf Goetzen zum Hilfskriegsschiff. 1927 wurde die Graf Goetzen in Liemba umbenannt und verkehrte unter diesem Namen bis 2018 auf dem Tanganjikasee.
Quellen: Wikipedia Liemba, Spiegel: Das Kanonenboot, das über die Berge kam, Deutschlandfunk: Ein deutsches Schiff in Afrika, Golf Dornseif: Als Graf Goetzen in Kisten auf Safari ging. (PDF)
Dreikanal-Filminstallation To Cross One More Sea, 2024
Die Dreikanal-Filminstallation To Cross One More Sea (2024) bezieht sich auf die Flucht von 350 Menschen im März 1941 mit dem Schiff von Marseille nach Martinique in der Karibik, darunter André Breton, Claude Levi-Strauss, Germaine Krull, Anna Seghers. Enge Bezüge hat diese Werk zu der 2024 entwickelten und 2025 bei den Ruhrfestspielen 2025 aufgeführten Oper "The Great Yes, The Great No". Kapitän ist in der Oper Charon, der in der griechischen Mythologie die Toten als Fährmann über den Totenfluss zum Eingang der Unterwelt übersetzt. William Kentridge ergänzt die Passagierliste des Schiffs um zahlreiche weitere Figuren wie Frantz Fanon, Frida Kahlo, Aimé Césaire und die Schwestern Paulette und Jeanne Nardal, Pionierinnen der französischen Négritude-Bewegung. Gemeinsam begeben sie sich aus Europa auf die Reise in eine neue Welt.
Video-Installation Self-Portrait as a Coffee Pot, 2020-2024
Retrospektive Listen to the Echo in Dresden, 06.09.2025 - 14.01./15.02./28.06.2026
Die große Retrospektive anlässlich des 70. Geburtstags von William Kentridge findet an drei weiteren Orten der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden statt, die wir November 2025 besuchen werden. Im
Mittelpunkt dieser Ausstellungen steht die wiederkehrende Beschäftigung des Künstlers
mit dem Thema der Prozession als Metapher für das Streben menschlicher
Veränderung.
Der südafrikanische Künstler William Kentridge, Sohn
litauisch-jüdischer Emigranten, schöpft seine Themen aus persönlichen
Erfahrungen der Diaspora und seinem Wissen über die zerstörerischen
Auswirkungen von Rassismus und Antisemitismus. In Zusammenarbeit mit den
Staatlichen Kunstsammlungen Dresden knüpft er nun an die Erfahrungen
verschiedener Generationen im Osten Deutschlands an. An einem Ort, der
von gesellschaftlicher Polarisierung durch antidemokratische Kräfte
geprägt ist, thematisiert das Ausstellungs-Festival „Listen to the echo“
ab September 2025 Identität, Tradition und Verantwortung für das
Gemeinwesen.
Im Residenzschloss präsentiert das
Kupferstich-Kabinett die Druckgrafik von Kentridge als Medium für
Bildpolitik und Debattenkultur. Im Albertinum steht mit dem
„Fürstenzugkarton“ aus der Sammlung des Kupferstich-Kabinetts ein noch
nie gezeigtes Werk im Dialog mit der monumentalen Mehrkanalprojektion
„More Sweetly Play the Dance“. Erstmals sind in einem deutschen
Ausstellungskontext auch Künstlerinnen des von Kentridge und Bronwyn
Lace gegründeten „Centre for the Less Good Idea“
aus Johannesburg beteiligt. In der Puppentheatersammlung erforschen
sie, wie sich Puppen künstlerisch (re-)aktivieren lassen. Im Mittelpunkt
stehen die Figur des Todes und die Bedeutung der Schwarzen Figur im
Puppentheater. Eine Kooperation mit dem Museum Folkwang in Essen spannt
unter demselben Titel einen Bogen zwischen West- und Ostdeutschland, ist
jedoch nicht Teil der Förderung durch die Kulturstiftung des Bundes. - Quelle: Kulturstiftung des Bundes: William Kentridge. Listen to the echo
Begegnungen mit William Kentridge
Unser erster Kontakt mit einem Werk von William Kentridge fand 2012 auf der documenta 13 in Kassel statt, wo das Gesamtkunstwerk einer Fünf-Kanal-Video-Installation The Refusal of Time (Die Verweigerung der Zeit)
gezeigt wurde, die uns derart begeisterte, dass wir sie am nächsten
Tag noch einmal angeschaut und in einem Post beschrieben haben: documenta 13 - 'The Refusal of Time' im Kulturbahnhof. Kleine Besuchergruppen saßen nach Voranmeldung in einem abgedunkelten Raum des ehemaligen Güterbahnhofs und fühlten sich durch Projektionen verschiedener Kanäle der Installation als Teilnehmer des Chaos in der Welt. Mitten im Raum arbeitete eine als Elefant bezeichnete Maschine scheinbar als Pumpe des Chaos. In Projektionen dargestellte Szenen vermittelten in schnell wechselnden kurzen Sequenzen Emotionen von Gewalt, Hoffnung, Glück. - Kentrige Studio: The Refusal of Time & Refuse the Hour
Clips haben wir glücklicherweise am ersten Tag aufgenommen. Beim zweiten
Besuch waren Videoaufnahmen und Fotos untersagt. Rechte am Werk waren
nämlich bereits an das Museum of Modern & Contemporary Art (MET) in New York verkauft (The Refusal of Time),
das keine Aufnahmen gestattete, nachdem zahlreiche Medien Kentridges
Videoinstallation als Highlight der documenta 13 bewertet hatten. - Kentridge Studio, Peter L. Galison (Physiker): Die Ablehnung der Zeit (deutsche Übersetzung Seite 22ff.)
Seit der documenta 13 ist Wiiliam Kentridge in Deutschland als Künstler eine namhafte
Größe und wurde mit mehreren Einzelausstellungen gewürdigt. Ein
Wiedersehen feierten wir 2018 mit der Ausstellung William Kentridge, O Sentimental Machine im Frankfurter Liebighaus, wo u.a. auch The Refusal of Time gezeigt wurde (Digitorial der Ausstellung O Sentimental Machine).
Posts und Medienberichte zu William Kentridge und Ausstellungen
Eigene Posts
- 2012: documenta 13 - 'The Refusal of Time' im Kulturbahnhof
- 2018: O Sentimental Machine - William Kentridge im Liebighaus, Frankfurt
Biografien, Interviews, Preise, Presse
- Interview im Magazin Deichtorhallen Hamburg, 20.03.2021: »Von der Zeichnung geht alles aus«
- Pressemitteilung Museum Folkwang, 04.11.2024: William Kentridge erhält den Internationalen Folkwang Preis
- WAZ, 04.11.2024: „Versuch‘s mit weniger guten Ideen!“, sagt William Kentridge
- Kultur.West, 23.12.2024: Interview »Wenn ich nur dasitze und nachdenke, hänge ich irgendwann fest«
- NZZ, 06.09.2025: Interview «Ich bin gefangen in Johannesburg», sagt William Kentridge. «Die Fragen, die sich hier stellten, erwiesen sich aber als sehr produktiv»
- Art in Words, 03.09.2025: William Kentridge: Biografie
- DW, 03.09.2025: William Kentridge: Kunst für Menschenrechte
- KStA, 08.09.2025: Megafon des Widerstands
Medienberichte zur Ausstellung Listen to the Echo
- SZ, 04.11.2024: Folkwang-Preis an William Kentridge - 2025 große Ausstellung
- WDR, 04.09.2025: William Kentridge im Museum Folkwang: Über Apartheid, Flucht und Gold FAZ, 28.04.2025: William Kentridge 70: Der Künstler als Kaffeekanne
- FAZ, 06.09.2026: William Kentridge: Der Maler der fließenden Welt
- SZ, 03.09.2025: Bergbau und Kolonialleid: Folkwang zeigt Kentridge-Werkschau
- Art in Words, 04.09.2025: Museum Folkwang: William Kentridge
- taz, 11.09.2025: Doppelausstellung zu William Kentridge. In diesen heil’gen Hallen kennt man die Rache nicht
Medienberichte zu weiteren Ausstellungen und Events
- MoMA, New York, 2006: William Kentridge’s 9 Drawings for Projection
- Modern Art Museum of Fort Worth, 2009: William Kentridge: Fünf Themen (automatische Übersetzung aus dem Englischen)
- Deutschlandfunk, 30.07.2012: Gegen den Lauf der Zeit
- Museum of Modern & Contemporary Art (MET), New York, 2012: The Refusal of Time
- Museum of Modern & Contemporary Art (MET), New York: William Kentridge (25 Werke)
- Berlin 2016: No, it is! William Kentridge
- FAZ, 23.03.2018: Kentridge im Liebighaus: Die Kontinuität der Automaten
- Liebighaus: William Kentridgte. O Sentimental Machine
- Liebighaus: The Refusal of Time
- Liebighaus: Coffee Pot
- Liebighaus: Black Box
- Medienberichte zur Aufführung „The Head and the Load“ der Ruhrtriennale 2018
- Die deutsche Bühne: Eine Klang-Bild-Bewegungs-Eruption - William Kentridge, Philip Miller: The Head & The Load
- Deutschlandfunk: „The Head and the Load“ bei der RuhrtriennaleKolonialismus und Kaiserwalzer
- Deutschlandfunk: Unbekanntes Kapitel des Kolonialismus
- Theaterfeuilleton nachtkritik.de: Großer Befreiungs-Marsch
- SZ: Kanonenfutter
- Beiträge zur Ausstellung 2021/2021 in den Deichtorhallen Hamburg: WILLIAM KENTRIDGE WHY SHOULD I HESITATE: PUTTING DRAWINGS TO WORK
- DW, 27.10.2020: William Kentridge: Tragödien auf der Leinwand
- NDR, 09.08.2021: William Kentridge: Kunst, politisch und spektakulär
- Magazin Deichtorhallen Hamburg, 2020: »Das Absurde ist für mich eine wichtige Kategorie«
- Magazin Deichtorhallen Hamburg, 2021: Alles in Bewegung
- Magazin Deichtorhallen Hamburg, 2021: Nichts bleibt, wie es ist
- Magazin Deichtorhallen Hamburg, 2021: »Von der Zeichnung geht alles aus«
- Magazin Deichtorhallen Hamburg, 2021: Den Augenblick entzünden
- London 2022, Royal Academie of Arts: William Kentridge
- Biennale Venedig, FAZ, 18.10.2024: William Kentridge: Allein mit sich selbst im Atelier
- Musiktheater: The Great Yes, The Great No
- Medienberichte zur Aufführung "The Great Yes, The Great No" der Ruhrfestspiele 2025
- Theater der Zeit: Humor und Hoffnung in einer zerfallenden Welt
- Theaterfeuilleton nachtkritik.de: Kein fremder Himmel schützte mich
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