Montag, 8. September 2025

Listen to the Echo - Retrospektive William Kentridge im Museum Folkwang, Essen, 4.09.2025 - 18.01.2026 (Update 14.09.2025)

Museum Folkwang, Essen William Kentridge, I Look in the Mirror, I Know What I Need, 2023 William Kentridge, Handgewebte Mohair-Tapisserien, 2001-2007
 
Zum 70. Geburtstag von William Kentridge präsentieren das Museum Folkwang und die Staatliche Kunstsammlungen Dresden in einem Gemeinschaftsprojekt die große Retrospektive Listen to the Echo. Der Titel lädt zum bewussten Nachspüren der Vergangenheit ein und fordert zu Offenheit für Resonanz auf. Die Ausstellung William Kentridge, Listen to the Echo, 04.09.2025 - 18.01.2026 im Museum Folkwang präsentiert 160 Exponaten aus mehr als vier Jahrzehnten. Die Ausstellungen in Dresden besuchen wir im November 2025.
 
William Kentridge (*1955 in Johannesburg) gehört weltweit zu den renommiertesten zeitgenössischen Künstlern. International bekannt wurde er Ende der 1980er Jahre durch seine animierten Kurzfilme, in denen Kentridge sich kritisch, zugleich aber auch sehr poetisch mit der Vergangenheit und Gegenwart Südafrikas auseinandersetzt [Biografie]. Diese Filme, die auf großformatigen Kohlezeichnungen basieren, bilden den Ausgangspunkt für ein umfangreiches Œuvre, das Zeichnung, Druckgrafik, Tapisserie und Skulptur ebenso umfasst wie Operninszenierungen und multimediale Bühnenstücke. In seinen inhaltlich miteinander verwobenen Werken thematisiert Kentridge immer wieder die Frage nach Gerechtigkeit, aber auch das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft.

Einen Schwerpunkt bilden die Filme der Reihe Drawings for Projection, in denen Aufstieg und Niedergang von Johannesburg ebenso zur Sprache kommen wie das schwierige Erbe der Apartheid. Auch Kentridges Beschäftigung mit dem Kolonialismus europäischer Mächte in Afrika spielt in der Ausstellung eine wichtige Rolle, insbesondere in der Zeichnungsserie Colonial Landscapes, den Porter-Tapisserien oder der mechanischen Miniaturbühne Black Box/Chambre Noire. 
 
William Kentridge konzipiert seit vielen Jahren eigene Stücke für das Musiktheater, die er zu multimedialen Werken weiterentwickelt, darunter To Cross One More Sea, eine Dreikanal Filminstallation über die Flucht von Künstler:innen und Intellektuellen per Schiff vor dem Naziregime. Kentridge tritt auch selbst in seinen Filmen in Erscheinung. Die Filmserie Self Portrait as a Coffee-Pot gibt auf amüsante Weise tiefe Einblicke in sein Denken und in sein Studio als Ort kreativer künstlerischer Praxis.
Quelle des Einleitungstextes: Ausstellungsflyer, Museum Folkwang mit Verlinkungen und Ergänzungen des Autors in eckigen Klammern. 
 
 
Besuch der Ausstellung im Museum Folkwang 
 
Museum Folkwang, Essen Museum Folkwang, Essen Museum Folkwang, Essen
 
Am Morgen sind wir um 10:00 Uhr zunächst die einzigen Besucher der Sonderausstellung Listen to the Echo und befinden uns gegenüber Aufsichtspersonen in der Unterzahl. Fehlendes Gedränge kann uns nur Recht sein, aber das trotz Medienberichte auffällig geringe Interesse empfinden wir als erstaunlich und bemerkenswert. Kunstmuseen besuchen gewöhnlich nur bildungsaffine Menschen des bürgerlichen Establishments und interessieren sich für Kultur etablierter musealer Klassik, die den eigenen sozialen Status bestätigt. Kentridges Arbeiten sind sperrig und weder als Dekorationen noch als Meditationsvorlagen tauglich, sondern regen als provozierende Statements zum Nachdenken über Absurditäten und Widersprüche von Zuständen und Prozessen der Welt an. Anscheinend neigen Menschen des Establishments dazu, Wahrnehmungen kulturkritischer Statements zu vermeiden oder Kulturkritik als Belästigung zu empfinden. Der Sachverhalt des geringen Interesses vermittelt einmal mehr, wie schwer es Kunst der Gegenwart generell in öffentlicher Wahrnehmung hat und wie noch deutlich schwerer sie es hat, wenn sie politisch und kulturkritisch aufgeladen ist. 
 
Dieser Post beabsichtigt keine kulturkritische Abrechnung und versucht nicht, den Besuch der Ausstellung umfassend zu dokumentieren, sondern er möchte zum Verständnis des komplexen präsentierten Werks beitragen und auf eine Ausstellung aufmerksam machen, die auch auf internationalem Niveau neben der Retrospektive anlässlich des 80. Geburtstags von Anselm Kiefer als Highlight des Jahres 2025 zu werten ist. (Den Besuch der Kiefer-Ausstellung beschreibt der Post "Sag mir wo die Blumen sind" - Retrospektive in Amsterdam anlässlich Anselm Kiefers 80. Geburtstag.) In dieser Dichte und Qualität waren William Kentridges Arbeiten aus 40 Jahren bisher noch nie zu sehen und werden auf unabsehbare Zeit nicht mehr zu sehen sein. Weil der Ausstellungskatalog sicherlich hilfreich für das Verständnis ist, sind wir entschlossen, den Katalog zum Preis von 38 € zu erstehen. Im Museum ist jedoch aktuell nur die englische Ausgabe verfügbar, deren Lektüre für uns zu mühsam ist. Für September 2025 ist eine deutsche Ausgabe angekündigt, die wir inzwischen vom Verlag beziehen konnten.
 
 
Anmerkungen zum Verständnis des Werks

William Kentridge, Drawing for Self-Porträt as a Coffee-Pot (2 Private Thoughts), 2021
Drawing for Self-Porträt as a Coffee-Pot
(Private Thoughts), 2021
William Kentridge, Video-Projektion Self-Porträt as a Coffee-Pot Die Ausstellung Listen to the Echo gliedert sich im Museum Folkwang räumlich und thematisch in 11 Werkgruppen, die mehr oder weniger fließend ineinander übergehen. Technische Kontinuität des sich über 40 Jahre entfaltenden Werks bilden Kohlezeichnungen, Scherenschnitte, Filmsequenzen. Inhaltlich befassen sich Darstellungen aus positiver Perspektive kritisch mit kulturellen Themen wie Kolonialismus, Rassismus, Ausbeutung, Gewalt, Entfremdung, Leidenschaft sowie mit der Natur und scheuen keine ironischen Selbstdarstellungen. 
 
 
Kentridges Haltung und Motivation 
 
Der bedeutendste Schlüssel zum Werk ist William Kentridges soziales, politisches, kulturelles Engagement für Menschenrechte. Egoismus und Selbstgenügsamkeit widerstreben ihm. Seine künstlerische Arbeit nimmt politische Positionen gegen Apartheid, Armut, Rassismus, Menschenrechtsverletzungen ein, aber er engagiert sich auch persönlich in zahlreichen politischen Projekten für humanitäre soziale und kulturelle Ziele. (DW, 03.09.2025: William Kentridge: Kunst für Menschenrechte)
 
William Kentridge, Casspirs Full of Love, 1989 (Casspirs waren gepanzerte Fahzeuge, die in SA gegen die schwarze Bevölkerung eingesetzt wurden.)
Casspirs Full of Love, 1989
(Casspirs waren gepanzerte Fahzeuge, die gegen
die schwarze Bevölkerung eingesetzt wurden.)
William Kentridge, Art in a State of Siege, Art in a State of Hope, Art in a State of Grace, 1988
Art in a State of Siege (im Zustand von Belagerung), 
Art in a State of Hope (im Zustand von Hoffnung), 
Art in a State of Grace (im Zustand von Anmut), 1988
Druckgrafiken links und rechts hat William Kentridge kurz vor dem Ende der Apartheid erstellt. Sie klagen die Absurdität einer im Luxus lebenden weißen Bevölkerung an, deren Minderheit weniger als 10 % beträgt und die Majorität ausbeutet und unterdrückt. Seit 1985 galt der Ausnahmezustand. Proteste der schwarzen Bevölkerung wurden mit Gewalt, Folter, politischen Morden bekämpft. Etliche Townships waren von Militär besetzt. Militär und Sicherheitsdienste wurden massiv ausgebaut sowie mit biologischen und chemischen Waffen aufgerüstet und bestimmten die Politik. Aufstände waren teilweise inszeniert, um gegen schwarze Bevölkerung vorzugehen. Links demonstrieren sieben abgetrennte, gestapelte Köpfe von Schwarzen neben Szenen des gesellschaftlichen weißen Lebens groteske Gegensätze zwischen unterdrückter schwarzer Bevölkerung und luxuriös lebender weißer Bevölkerung. Der Bildtitel zitiert eine Radiosendung, in der eine Mutter ihrem militärischem Sohn Casspirs Full of Love wünschte. Die rechte Grafik stellt Fragen nach der Rolle und Haltung von Kunst, die trotz der sozialen Realität in Südafrika eine ausbeuterische, gesellschaftliche Probleme ignorierende Machtelite mit romantischen und lyrischen Kompositionen bedient. Der Bildtitel verweist auf drei unterschiedliche künstlerische Haltungen, deren Absurdität Bildelemente zeigen. (Die Deutung zitiert Bildbeschreibungen von Stepanie Buck, Katalog Listen to the Echo, Jenseits der Eindeutigkeit, S. 41f.)
 
 
Projekte und Produktionsumgebung
 
William Kentridge verfügt sicherlich über einen außergewöhnlich kreativen Kopf, der unermüdlich neue Ideen generiert. Labor und Werkstatt der unter seinem Namen veröffentlichten Arbeiten ist jedoch kein Atelier, sondern das Kentridge Studio in Johannesburg (Online-Portal Kentridge Studio in deutscher Übersetzung). Veröffentlichte Arbeiten sind keine Produkte einer One-Man-Show, sondern Ergebnisse kollaborativer Projekte, in denen zahlreiche feste und temporäre Mitarbeiter mit Künstlerkollegen und Produktionspartnern zusammenarbeiten. William Kentridge ist der Katalysator für gemeinsam einzubringende Ideen aus allen denkbaren kreativen Disziplinen von Malerei, Skulptur, Druckgrafik, Tapisserie, Musik, Tanz, Schauspiel, Film bis zu Sprache, Literatur, Philosophie. Beteiligte nehmen im Rahmen der Projekte gemeinsam Einfluss auf die Gestaltung von Arbeiten. Diese zeigen keine empirische Realität. Darstellungen wechseln oft unvermittelt zwischen Augenzwinkern über Ironie bis zu Anklage und zeigen eine aus den Fugen geratene chaotische Zwischenwelt, die Leben zur Absurdität verzerrrt, aber Leben nicht verhindert und Alternativen nicht ausschließt. 
 
Als eines von zahlreichen Projekten des Studios hat Kentridge 2016 gemäß südafrikanischem Sprichwort "If the good doctor can’t cure you, find the less good doctor" (Wenn der gute Arzt Sie nicht heilen kann, suchen Sie sich einen weniger guten Arzt) das Centre for the Less Good Idea (Zentrum für die weniger gute Idee) gegründet. Das Zentrum experimentiert mit neuen Ideen und entwickelt spielerisch spontane Kurzprojekte. Im Zeitraum zwischen 2016 und 2023 hat das Zentrum mit mehr als 800 Künstlern aller Disziplinen ca. 500 Performances, Filme und Installationen erarbeitet. Seit 2020 baut das Projekt SO | The Academy for the Less Good Idea diese Idee systematisch als kreatives kulturelles Konzept über Südafrika hinaus international aus.   
 
 
Filmprojekte, Gesamtkunstwerke, Techniken 
 
Für die Realisierung von Projekten hat das Filmmedium eine nicht zu überschätzende Bedeutung. Mithilfe dieses Mediums orchestriert das Kentridge Studio gestalterische Elemente in seinen Projekten zu dichten Gesamtkunstwerken. Gesamtkunstwerke der Projekte reichert das Medium zusätzlich mit filmspezifischen Elementen wie Trickaufnahmen, Überblendungen, Bewegungs- und Lichteffekten an. Die Arbeitsweise des Kentridge Studios erinnert an den kürzlich verstorbenen genialen US-amerikanischen Theaterregisseur Robert Wilson. Wir hatten das, bis heute nur wenig verblasste, außerordentliche Vergnügen, 1985 den deutschen Teil des Gesamtkunstwerks The Civil WarS: A Tree Is Best Measured When It Is Down (automatische Übersetzung eines Wikipedia-Artikels aus dem Englischen) live zu erleben und fühlen uns von der Aufführung noch immer berührt. Im Unterschied zu William Kentridge war Robert Wilson jedoch ein Mann des Theaters ohne explizite politische, pädagogische, philosophische Ansprüche. 

In bis zu 30 Minuten langen Kurzfilmen verbindet Kentridge Schauspiel, Schattenspiel, Musik, Tanz, Trickfilm oft in Mehrkanaltechnik mit Überblendungen zu opernartigen Gesamtkunstwerken, von denen die Essener Ausstellung Listen to the Echo mehrere präsentiert. Kentridge verwendet altmodische Techniken, die an expressionistische Stummfilme erinnern. Seine Filme bezeichnet Kentridge als Drawings for Projection (Zeichnungen zur Projektion)Projections beginnen gewöhnlich mit einem Bühnebild als Setting einer Szene. Für Szenen erstellt er Scherenschnitte sowie Zeichnungen mit Kohle auf Papier, die er zu Collagen montiert und in seinen Projections in Stop-Motion-Technik zu Trickfilmen animiert. 
 
Kohlezeichnungen entstehen in einer speziellen Technik, bei der Kentridge erstellte  Kohlezeichnungen löscht, überarbeitet, fotografiert und als bewegtes Bild projiziert. Spuren der Löschung bleiben sichtbar und legen sich schichtweise übereinander. In dieser Art des Filmens bewegen sich nicht alle Elemente, sondern es findet immer nur eine Aktion statt. Um einen Ablauf als Bewegung umzusetzen, werden 24 Bilder pro Sekunde bzw. 1440 Bilder pro Minute und pro Blatt Tage bis Wochen benötigt. Die Erstellung eines Films dauert bis zu einem Jahr. Ein sechsminütiger Film enthält bis zu zehn verschiedene Bühnenbilder, die als Blätter mit allen Spuren übrigbleiben und als Relikte des Prozesses an Museen und Sammler gehen. Neben den Filmen erstellt Kentridge mit Motiven der Filme druckgraphische Serien, die zur Verbreitung gedacht sind, d.h. es bestehen zwei Arten von Zeichnungen als Drawings for Projection.  
 
Betrachter von Filmen sehen die Geschichte ihrer Entstehung als Arbeitsprozess, sodass der Prozess selbst an der Erzählung der Geschichte beteiligt ist.
 

Filmmusik 
 
Ein bedeutendes tragendes Element der Filme ist Musik. Filmmusiken basieren auf im britischen Kulturraum in der Arbeiterschicht populärer Musik von Brassbands ("Blechkapellen"), die keine feinsinnigen hochkulturellen musikalischen Kunstwerke zelebrieren, sondern rhythmisch animierend aufwecken und tänzerisch mitreißen möchten. Seit 1993 arbeitet William Kentridge mit dem südafrikanischen Komponisten Philip Miller zusammen, der die Musik zu etlichen Filmprojekten beisteuert, u.a. zu The Refusal of Time (Wiedergabe der Tracks). Filmmusik erinnert teilweise an Kompositionen des US-amerikanischen Komponisten Philip Glass sowie an das Projekt Escalator over the Hill (1967-1971) der US-amerikanischen Musikerin und Komponistin Carla Bley, das 1997 zum ersten Mal live aufgeführt wurde. Die Uraufführung haben wir erfreulicherweise in der Kölner Musikhochschule erlebt. Dass Philip Miller dieses Werk kennt, ist nicht belegt, aber es würde uns wundern, wenn es nicht so wäre. 
 
 
Schlussfolgerungen

Projekte des Kentridge Studios erlauben mehrere allgemeine Feststellungen:
  • Ähnlich wie in Malerei und Musik sind keine der in Projekten verwendeten Elemente wirklich neu, aber überraschend origenell ist die kreative multikulturelle und multimediale Art der Kompilierung zu aufregenden Gesamtkunstwerken.
  • Kentridge vertritt offensichtlich die Auffassung, dass Kunst nicht zum Selbstzweck existiert, sondern für Menschen nützliche Aufgaben übernehmen sollte.
  • Arbeiten des Kentridge Studios können im Sinne von Joseph Beuys als auf Gesellschaft einwirkende soziale Plastiken verstanden werden. Im Unterschied zu Joseph Beuys verfolgt William Kentridge keine esoterischen antroposophischen Ziele, sondern politische Ziele einer gerechteren Welt.
  • Projekte des Kentridge Studios setzen sich mit Missständen unserer sozialen und politischen Welt kritisch auseinander. An Projekten Beteiligte beziehen aus der Zusammenarbeit und der kritischen Auseinandersetzung mit Phänomenen der Welt positive Lebensenergie und gewinnen Zuversicht und Mut für Verbesserungen dieser Welt, die auf Rezipienten der Werke ausstrahlt und Hoffnung vermittelt.
  • Aus Interviews und aus seinen Arbeiten erschließt sich Kentridges erkenntnistheoretische Sicht. Wissen über die Welt bezieht sich nicht auf vermeintlich objektive empirische Phänomene. Wissen besteht aus Konstrukten, die dazu verhelfen, Chaos der Welt zu ordnen, um im Chaos leben zu können. Wissenskonstrukte entstehen aus Gründen von Nützlichkeit. Bewertungen von Nützlichkeit sind jedoch nicht für alle Menschen identisch. Wer über Macht verfügt, bestimmt Deutungen der Welt als nützliche Wahrheiten. Nützlichkeit von Wissenskonstrukten basiert auf asymmetrischer Verteilung von Macht und erzeugt Verteilungen von Gewinnern, Verlierern und Opportunisten. Als Angehöriger des Bildungsbürgertums der weißen Rasse ist Kentridge geborener Opportunist. Wie bereits sein Vater, jedoch mit anderen Methoden, setzt sich Kentridge für Verlierer ein und klagt Gewinner an. Das Ansehen seiner Kunst bewahrt ihn davor, zwischen Mühlsteinen von Macht zerrieben zu werden.  
  
Anmerkungen zu Symbolen
 
Arbeiten des Werks von William Kentridge sind vollständig von vielschichtigen Symbolen mit teilweise historischen und mythologischen Bezügen durchdrungen. Zu nennen sind immer wieder verwendete Symbole wie Megafone, Zirkel, Stative mit Messinstrumenten, Bohrtürme, Schiffe, Boote, Gewehre, Kanonen, Leitern, Bäume, Laub, Papierblätter, Bücher etc. 
 
In der sozialen Realität ist das Leben völlig von Symbolen durchdrungen, die aber als Symbole nicht bewusst werden, solange ihre Bedeutung aufgrund von Sozialisationsprozessen in kulturellen Kontexten als vermeintliche Selbstverständlichkeit bekannt ist. Dagegen besteht zwischen europäischer und afrikanischer Kultur eine erhebliche, nur mit explizitem Wissen zu überwindende kulturelle Kluft. William Kentridge lebt als Südafrikaner in zwei Welten und vermag Verbindungen herzustellen. Für eurozentrische Betrachter resultiert aus dieser Kluft eine Komplexität, deren Entschlüsselung sich nicht für Kurzbetrachtungen eignet und daher hier ausgeklammert bleibt.  
 
Schlüsselsymbole erschließen das Werk, aber Deutungen von Symbolen sind ein spezielles, schwieriges Thema. Symbole verleiten zu Verwechslungen mit Zeichen und zu Irrtümern von Deutungen. Im Unterschied zu 'nackten' Zeichen stehen sichtbare Attribute von Symbolen in keinem direkten Bezug zu Dingen, auf die sie zu verweisen scheinen. Als Zeichenmuster, Ritual, Handlung etc. enthalten sie nicht unmittelbar sichtbare kulturell konnotierte Überschussbedeutungen mit Verbindungen zu nicht sichtbaren und meistens nicht bewussten und nicht explizit definierbaren komplexen kulturellen Konzepten. Kulturell konnotierte Bedeutungen sind nicht in Stein gemeißelt, sondern variieren räumlich und zeitlich über soziale Kontexte. 
 
Verständlicher wird die abstrakte Beschreibung anhand des Beispiels Geld bzw. Zahlungsmittel. Geld ist ein typisches, mit Bedeutungsüberschuss aufgeladenes Symbol ohne eigenen Wert. In unterschiedlichen Kulturen kursieren unterschiedliche Zahlungsmittel mit unterschiedlichen symbolischen Werten. In indigenen Kulturen garantieren überlieferte Traditionen den Wert von Zahlungsmitteln. In modernen Kulturen der Gegenwart garantieren vertrauenswürdige politische Institutionen den Wert. Wenn in der Moderne Vertrauen nachlässt, flüchten Menschen mit Geld in werthaltige Sachmittel, Gold, Immobilien, Kunst, Oldtimer etc. oder transferieren ihr Geld in stabilere Länder. Werthaltigkeit von Sachmitteln erfordert zwar ebenfalls Vertrauen und ist ebenfalls kulturabhängig, aber langfristige Erfahrungen vermitteln, dass Sachwerte weniger volatil als Geld oder andere Länder politisch stabiler sind und daher Verluste unwahrscheinlicher werden.
 
Noch deutlicher, aber auch abstrakter, wird der Charakter von Symbolen, wenn verstanden wird, dass Sprache als ein System symbolischer Repräsentation von kommunikaten Inhalten aufzufassen ist. Sprache verstehen wir nur, wenn wir sie erlernt haben, aber erlernte Sprachmuster schützen uns nicht vor Missverständnissen kulturell spezifischer Feinheiten. Um Missverständnisse zu vermeiden, müssen wir zusätzlich spezifische Kulturmuster lernen.


Fotos der Ausstellung im Museum Folkwang 
 
Dieser Post zeigt eine Auswahl der bei unserem Besuch aufgenommenen Fotos aus 11 Werkgruppen in bescheidener Smartphone-Qualität. Das komplette Album ist hier zu sehen: Fotoserie
 
 
Kohlezeichnungen aus Videoprojektionen der Reihe Drawings for Projection, 1989-2020
Kentrige Studio: Drawings for Projection  
 
William Kentridge, Other Faces, Drawings for Projection, 2011 William Kentridge, Mine, Drawings for Projection, 1991 William Kentridge, Mine, Drawings for Projection, 1991
 
Die Kurzfilme Mine und City Deep des zehnteiligen Zyklus Drawings for Projection handeln vom Aufstieg und Niedergang der Montanindustrie in Johannesburg, die mit ähnlichen Entwicklungen des Ruhrgebiets vergleichbar ist.
 
 
The Black Box / Chambre Noir, 2005   
Kentrige Studio: Black Box / Chambre Noir 

William Kentridge, The Black Box / Chambre Noir (Herero-Genozid durch deutsche "Schutztruppen" in Deutsch-Südwestafrika, 2005 William Kentridge, The Black Box / Chambre Noir (Herero-Genozid durch deutsche "Schutztruppen" in Deutsch-Südwestafrika, 2005 William Kentridge, The Black Box / Chambre Noir (Herero-Genozid durch deutsche "Schutztruppen" in Deutsch-Südwestafrika, 2005 William Kentridge, The Black Box / Chambre Noir (Herero-Genozid durch deutsche "Schutztruppen" in Deutsch-Südwestafrika, 2005 William Kentridge, The Black Box / Chambre Noir (Herero-Genozid durch deutsche "Schutztruppen" in Deutsch-Südwestafrika, 2005
 
Die mechanische Guckkastenbühne des Projekts erinnert an den Völkermord an ca. 100.000 Afrikanern vom Stamm der Hereo und Nama durch deutsche "Schutztruppen" in Deutsch-Südwestafrika (Namibia). Kommandeur der "Schutztruppen" war der preußische Infanterie-General Lothar von Trotha. Trothas Kriegsführung gegen den Aufstand der Stämme der Heroro und Nama zielte mit Unterstützung des Kaisers Wilhlem II. auf Vernichtung der Stämme ab.
 
In Deutschland waren und sind teilweise noch immer Gerüchte von guten deutschen Soldaten und ihrem menschlichen Umgang mit Einheimischen verbreitet. In der Realität erließ General von Trotha am 2.10.1904 eine als „Vernichtungsbefehl“ bekannt gewordene Proklamation an das Volk der Herero, die anschließend umgesetzt wurde (Wikipedia: Völkermord an den Herero und Nama):
„Ich der große General der Deutschen Soldaten sende diesen Brief an das Volk der Herero. Die Hereros sind nicht mehr deutsche Untertanen. Sie haben gemordet und gestohlen, haben verwundeten Soldaten Ohren und Nasen und andere Körperteile abgeschnitten, und wollen jetzt aus Feigheit nicht mehr kämpfen. Ich sage dem Volk: Jeder der einen der Kapitäne an eine meiner Stationen als Gefangenen abliefert, erhält 1000 Mark, wer Samuel Maharero bringt, erhält 5000 Mark. Das Volk der Herero muss jedoch das Land verlassen. Wenn das Volk dies nicht tut, so werde ich es mit dem Groot Rohr[40] dazu zwingen. Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück, oder lasse auf sie schießen. Das sind meine Worte an das Volk der Herero. Der große General des mächtigen Deutschen Kaisers“ 
 
Tafel am Grab von Chief Gaob XamsebGrab Damara Chief Gaob XamsebSeit Jahrzehnten zwischen Deutschland und Namibia stattfindende Gespräche über Aussöhnung und über von Namibia erhobene Forderungen der Wiedergutmachung und gehen auf die Ereignisse zurück (BPB: Völkermord an Herero und Nama: Abkommen zwischen Deutschland und Namibia). Auf unserer zweiten Namibia-Reise haben wir 2016 in Windhoek im Nationalen Botanischen Garten das Ehrengrab des Damara Chiefs Gaob Xamseb besucht. Eine Tafel am Grab informiert über das Schicksal. 1890 rebellierte Gaob Xamseb gegen deutsche Besatzung und wurde daraufhin inhaftiert und enthauptet. Nach langjähriger Suche wurde sein Grab 2006 gefunden und an diesen Platz überführt. Am Grab haben wir einen Stein abgelegt und für abscheuliche Verbrechen deutscher Vorfahren um Verzeihung gebeten. Das Grab von Hendrik Witbooi, Anführer des Aufstands, ist verschollen.
 
 
Handgewebte Mohair-Tapisserien der Serie Porter (Träger), 2001-2007, nach Collagen von William Kentridge
 
William Kentridge, Handgewebte Mohair-Tapisserien, 2001-2007 William Kentridge, Scherenschnitte, Handgewebte Mohair-Tapisserien Wlliam Kentridge, Handgewebte Mohair-Tapisserie Wlliam Kentridge, Handgewebte Mohair-Tapisserien, 2001-2007 Wlliam Kentridge, Handgewebte Mohair-Tapisserien, 2001-2007 William Kentridge, Carte hyposométrique de lèmpire Russe (Höhenkarte des russischen Reichs), 2020, Handgewebte Mohair-Tapisserie
 
Die Projekte Porter und Kaboom! beziehen sich auf den Einsatz von 1,5-2 Millionen angeworbenen und zwangsrekrutierten Afrikanern als Lastenträger während des 1. Weltkriegs durch kriegsführende Kolonialmächte (Großbritannien, Belgien, Deutschland, Portugal). Soldaten hatten 1-3 Träger, Offiziere bis zu 9 Träger. Mindestens 200.000 Lastenträger starben. Je nach Quelle unterscheiden sich Zahlen deutlich, weil die Historie nie systematisch aufgearbeitet wurde. Systematisch erforscht ist nur die Geschichte des britischen Trägerkorps. Weitgehend unerforscht sind jedoch auch hier sich bis in die Gegenwart erstreckende traumatische Folgen dieser Ereignisse im süd- und ostafrikanischem Kulturraum. 
 
Von Namibia erhobene Forderungen der Wiedergutmachung und seit seit Jahrzehnten zwischen Deutschland und Namibia stattfindende Gespräche über Aussöhnung gehen auf die Ereignisse zurück (BPB: Völkermord an Herero und Nama: Abkommen zwischen Deutschland und Namibia)
 
Der in Südafrika ausgetragene Ultramarathon Comrades entstand als Erinnerung an das Leiden der Träger.  
Wikipedia: Träger in Ostafrika im Ersten Weltkrieg - DW, 15.04.2015: Afrikas vergessenes Leid - SZ, 10.08.2018: Kanonenfutter


Fotos der Dreikanal-Filmprojektion Kaboom (Lastenträger), 2018
 
Video-Projektion Kaboom, William Kentridge Video-Projektion Kaboom, William Kentridge Video-Projektion Kaboom, William Kentridge Video-Projektion Kaboom, William Kentridge Video-Projektion Kaboom, William Kentridge Video-Projektion Kaboom, William Kentridge Video-Projektion Kaboom, William Kentridge
 
Das im unterern Foto dargestelle Schiff bezieht sich auf ein 1913 als Graf Goetzen bei der Meyerwerft Papenburg als Frachtschiff für den Einsatz auf dem Tanganjikasee in Afrika gebautes Motorschiff. Um das Schiff von Daressalam über Land zum Tanganjikasee zu transportieren, wurde es modular als Baukasten zusammenschraubbar entwickelt, bereits in Deutschland auseinandergenommen und in 5000 Holzkisten mit 800 t Gesamtgewicht verpackt. Nach dem Transport auf dem Seeweg nach Daressalam wurden die Kisten per Eisenbahn über 1200 km in das Landesinnere verfrachtet. Da die Eisenbahnlinie 35 km vor dem Ziel endete, transportierten Träger die Teile in drei Monaten über die Reststrecke durch den Dschungel. Am Tanganjikasee wurde das Schiff zusammengesetzt. Nach Ausbruch des 1. Weltkrieg erfolgte ein Umbau der Graf Goetzen zum Hilfskriegsschiff. 1927 wurde die Graf Goetzen in Liemba umbenannt und verkehrte unter diesem Namen bis 2018 auf dem Tanganjikasee.
Quellen: Wikipedia Liemba, Spiegel: Das Kanonenboot, das über die Berge kam, Deutschlandfunk: Ein deutsches Schiff in Afrika, Golf Dornseif: Als Graf Goetzen in Kisten auf Safari ging. (PDF) 
 
  
Dreikanal-Filminstallation To Cross One More Sea, 2024
 
William Kentridge, Filminstallatation To Cross One More Sea, 2024 William Kentridge, Filminstallatation To Cross One More Sea, 2024 William Kentridge, Filminstallatation To Cross One More Sea, 2024
 
Die Dreikanal-Filminstallation To Cross One More Sea (2024) bezieht sich auf die Flucht von 350 Menschen im März 1941 mit dem Schiff von Marseille nach Martinique in der Karibik, darunter André Breton, Claude Levi-Strauss, Germaine Krull, Anna Seghers. Enge Bezüge hat diese Werk zu der 2024 entwickelten und 2025 bei den Ruhrfestspielen 2025 aufgeführten Oper "The Great Yes, The Great No". Kapitän ist in der Oper Charon, der in der griechischen Mythologie die Toten als Fährmann über den Totenfluss zum Eingang der Unterwelt übersetzt. William Kentridge ergänzt die Passagierliste des Schiffs um zahlreiche weitere Figuren wie Frantz Fanon, Frida Kahlo, Aimé Césaire und die Schwestern Paulette und Jeanne Nardal, Pionierinnen der französischen Négritude-Bewegung. Gemeinsam begeben sie sich aus Europa auf die Reise in eine neue Welt.
 
 
Video-Installation Self-Portrait as a Coffee Pot, 2020-2024
 
William Kentridge, Video-Projektion Self-Porträt as a Coffee-Pot William Kentridge, Video-Projektion Self-Porträt as a Coffee-Pot William Kentridge, Video-Projektion Self-Porträt as a Coffee-Pot
 
  
Retrospektive Listen to the Echo in Dresden, 06.09.2025 - 14.01./15.02./28.06.2026
 
Die große Retrospektive anlässlich des 70. Geburtstags von William Kentridge findet an drei weiteren Orten der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden statt, die wir November 2025 besuchen werden. Im Mittelpunkt dieser Ausstellungen steht die wiederkehrende Beschäftigung des Künstlers mit dem Thema der Prozession als Metapher für das Streben menschlicher Veränderung.
 
Der südafrikanische Künstler William Kentridge, Sohn litauisch-jüdischer Emigranten, schöpft seine Themen aus persönlichen Erfahrungen der Diaspora und seinem Wissen über die zerstörerischen Auswirkungen von Rassismus und Antisemitismus. In Zusammenarbeit mit den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden knüpft er nun an die Erfahrungen verschiedener Generationen im Osten Deutschlands an. An einem Ort, der von gesellschaftlicher Polarisierung durch antidemokratische Kräfte geprägt ist, thematisiert das Ausstellungs-Festival „Listen to the echo“ ab September 2025 Identität, Tradition und Verantwortung für das Gemeinwesen. 
 
Im Residenzschloss präsentiert das Kupferstich-Kabinett die Druckgrafik von Kentridge als Medium für Bildpolitik und Debattenkultur. Im Albertinum steht mit dem „Fürstenzugkarton“ aus der Sammlung des Kupferstich-Kabinetts ein noch nie gezeigtes Werk im Dialog mit der monumentalen Mehrkanalprojektion „More Sweetly Play the Dance“. Erstmals sind in einem deutschen Ausstellungskontext auch Künstlerinnen des von Kentridge und Bronwyn Lace gegründeten „Centre for the Less Good Idea“ aus Johannesburg beteiligt. In der Puppentheatersammlung erforschen sie, wie sich Puppen künstlerisch (re-)aktivieren lassen. Im Mittelpunkt stehen die Figur des Todes und die Bedeutung der Schwarzen Figur im Puppentheater. Eine Kooperation mit dem Museum Folkwang in Essen spannt unter demselben Titel einen Bogen zwischen West- und Ostdeutschland, ist jedoch nicht Teil der Förderung durch die Kulturstiftung des Bundes. - Quelle: Kulturstiftung des Bundes: William Kentridge. Listen to the echo
 
 
Begegnungen mit William Kentridge 
 
Unser erster Kontakt mit einem Werk von William Kentridge fand 2012 auf der documenta 13 in Kassel statt, wo das Gesamtkunstwerk einer Fünf-Kanal-Video-Installation The Refusal of Time (Die Verweigerung der Zeit) gezeigt wurde, die uns derart begeisterte, dass wir sie am nächsten Tag noch einmal angeschaut und in einem Post beschrieben haben: documenta 13 - 'The Refusal of Time' im Kulturbahnhof. Kleine Besuchergruppen saßen nach Voranmeldung in einem abgedunkelten Raum des ehemaligen Güterbahnhofs und fühlten sich durch Projektionen verschiedener Kanäle der Installation als Teilnehmer des Chaos in der Welt. Mitten im Raum arbeitete eine als Elefant bezeichnete Maschine scheinbar als Pumpe des Chaos. In Projektionen dargestellte Szenen vermittelten in schnell wechselnden kurzen Sequenzen Emotionen von Gewalt, Hoffnung, Glück. - Kentrige Studio: The Refusal of Time & Refuse the Hour
 
Clips haben wir glücklicherweise am ersten Tag aufgenommen. Beim zweiten Besuch waren Videoaufnahmen und Fotos untersagt. Rechte am Werk waren nämlich bereits an das Museum of Modern & Contemporary Art (MET) in New York verkauft (The Refusal of Time), das keine Aufnahmen gestattete, nachdem zahlreiche Medien Kentridges Videoinstallation als Highlight der documenta 13 bewertet hatten. - Kentridge Studio, Peter L. Galison (Physiker): Die Ablehnung der Zeit (deutsche Übersetzung Seite 22ff.)
 
Seit der documenta 13 ist Wiiliam Kentridge in Deutschland als Künstler eine namhafte Größe und wurde mit mehreren Einzelausstellungen gewürdigt. Ein Wiedersehen feierten wir 2018 mit der Ausstellung William Kentridge, O Sentimental Machine im Frankfurter Liebighaus, wo u.a. auch The Refusal of Time gezeigt wurde (Digitorial der Ausstellung O Sentimental Machine).
 
 
Posts und Medienberichte zu William Kentridge und Ausstellungen

Eigene Posts

Biografien, Interviews, Preise, Presse
 
Medienberichte zur Ausstellung Listen to the Echo
 
Medienberichte zu weiteren Ausstellungen und Events

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