Dienstag, 26. Februar 2013

'Sehr gut - very good!' - "Durch das Rauhe zu den Sternen" - Martin-Kippenberger-Ausstellung im Hamburger Bahnhof, Berlin (23.02. - 18.08.2013)

"Ich arbeite daran, dass die Leute sagen können: Kippenberger war gute Laune!" (Martin Kippenberger)

Das Floß der Medusa, Martin Kippenberger
Martin Kippenberger über sich
Kippenberger zählt zu den Wilden der neo-dadaistischen Fluxus-Bewegung. In Ablehnung des traditionellen Kunstbegriffs feiern die Wilden allein die künstlerische Idee, ohne sich vom Gag abzugrenzen.
Als Multitalent ist Kippenberger auf vielen Feldern tätig, in denen er nie mit Bescheidenheit auffällt. Kippenberger gefällt sich als rastlos kreativer, origineller Chaot und Provokateur. Eine ausgeprägte Affinität zum Drogenkonsum sollte nicht überbewertet werden, weil zu Kippenbergers Zeit Drogen in Künstlerkreisen zu den Grundnahrungsmitteln zählen. In jungen Jahren beeindruckt Kippenberger mit blendendem Aussehen ("wie Helmut Berger in seiner besten Zeit", behauptete Kippenberger von sich). Er zahlt jedoch mit seinem frühen Tod einen hohen Tribut an seinen exzessiven Lebensstil.
Kippenberger strebte in den Olymp. Trotz seines nur mäßigen Erfolges im Kunstmarkt sieht sich Kippenberger auf Augenhöhe mit Picasso und Beuys. Weiße Feinrippunterhosen dürfen in einigen Posen als Verweis auf Picasso verstanden werden. Etliche Arbeiten und originelle Aperçus beziehen sich immer wieder auf Beuys. Da Kippenberger nicht zur Biennale in Venedig eingeladen wurde, verschafft er sich Präsenz. Um sich im Ausstellungsgelände der Biennale fotografieren zu lassen, dringt er in das verschlossene 'Arsenale' ein. Diashow mit Fotos vom Ausstellungsbesuch  

Das Floß der Medusa, Martin Kippenberger
"Jeder Mensch ist ein Künstler", erklärt Joseph Beuys, um kreatives Potential in das Zentrum von Kunst zu rücken. "Jeder Künstler ist ein Mensch", hält Kippenberger dagegen und verweist auf den Kontext von künstlerischer Kreativität und menschlicher Tragik. Erst in seinen letzten Lebensjahren wendet sich Kippenberger entschieden der Malerei von Tafelbildern zu. 1996 malt er den Bilderzyklus 'Das Floß der Medusa', eine Serie äußerst eindrucksvoller Selbstporträts, die aus allen Arbeiten dieser Ausstellung herausragen und Nähe zu Werken von Francis Bacon zeigen, mit dem sich Kippenberger auch in seinem Lebensstil verwandt zeigt. Die Tragik des Schiffsunglücks der französischen Fregatte 'Méduse' löste im Jahr 1816 Skandale aus. Eine Odyssee 400 Schiffbrüchiger überlebten nur 10 Kannibalen auf einer Reise durch tiefe menschliche Abgründe. Der französische Maler Théodore Géricault (1791-1824) reflektiert die Ereignisse 1819 in einem ehemals aufsehenerregenden Gemälde mit dem Titel 'Le Radeau de la Méduse' ('Das Floß der Medusa'), das in der Gegenwart im Louvre ausgestellt ist.


Das Floß der Medusa, Martin Kippenberger
Kippenberger stellt sich im Bilderzyklus der Medusa seiner eigenen menschlichen Tragik. Er selbst ist der todgeweihte Schiffbrüchige, auf den wir in mehreren Varianten schauen. Gealtert, krank und schwach legt Kippenberger in ungeschönter Menschlichkeit seine Rolle als 'Heavy Burschi' ab und zeigt die Hässlichkeit seiner Wunden an der Schwelle zum nahenden Tod. Wenn Kippenberger mit der Rückkehr zur Malerei gegen Ende seines Lebens einen Verrat an seinem eigenen Leben begeht, das 1997 im Alter von 44 Jahren endet, zeugt auch diese Volte von der Tragik des Scheiterns, aus deren Asche Großes wächst. Gemäß dem Motto 'per aspera ad astra' (dt. 'durch das Rauhe zu den Sternen') zahlt Kippenberger für seinen Griff nach den Sternen den faustischen Preis. Er setzt sein Leben ein. Dass Größe nicht ohne Tragik und Vergnügen nicht ohne Trauer zu haben sind, scheint ihm bewusst zu sein. Kippenberger wollte sich offenbar mit diesen Gemälden ein über sein Leben hinausweisendes künstlerisches Denkmal setzen. Das Kalkül ist aufgegangen.


Bitte nicht nach Hause schicken, Martin Kippenberger
Zu Lebzeiten tauschte Kippenberger seine Arbeiten gegen Essen und Trinken in Kneipen oder Unterkunft in Hotels ein. Postum gelangt Kippenberger doch noch von der Mitte bis auf Augenhöhe mit Picasso und Beuys. 1997 sind Arbeiten Kippenbergers auf der Documenta X und nach 1988 im Jahr 2003 das zweite Mal im deutschen Pavillon der Biennale in Venedig ausgestellt. Im Kunstmarkt erreichen Kippenbergers Werke inzwischen Preise in siebenstelliger Größenordnung. Nach Ausstellungen in der 'Tate Modern' (London, 2006) und im 'Museum of Modern Art' (New York, 2009) ist Kippenberger zu seinem 60. Geburtstag mit der Ausstellung 'Sehr gut - very good!' im Hamburger Bahnhof in Berlin angekommen. 'Berliner', wie die Ausstellung suggeriert, ist Kippenberger jedoch ähnlich viel oder wenig wie John F. Kennedy oder David Bowie. Kippenberger lebte an vielen Orten und war nirgendwo wirklich zu Hause. Einen Wohnsitz in Berlin hatte er lediglich von 1978 bis 1980. Allerdings ist Kippenberger in der im Hamburger Bahnhof beheimateten 'Sammlung Flick' mit etlichen Werken zu Hause, was vermutlich erst diese sehenswerte Ausstellung möglich machte, die bis zum 18. August 2013 im Museum für Gegenwartskunst zu sehen ist.
Unser Fazit: 'Sehr schön, beautiful!' und zugleich traurig - 'nulla sine merore voluptas' (kein Vergnügen ohne Trauer!).
 
Von Novermber 2019 bis Februar 2020 zeigte die Bundeskunsthalle Bonn die große Kippemberger-Restrospektive BITTESCHÖN DANKESCHÖN, über die ein Artikel der FAZ berichtet: Diese heftige Dabeiseinsgier
 
Isabelle Graw, Kunsthistorikerin und Herausgeberin des Magazins Texte zur Kunst, befasst sich anllässlich der Bonner Retrospektive in einem Beitrag mit Widersprüchlichkeiten von Leben und Werk des Künstlers: Learning from Kippenberger?

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