Samstag, 28. Februar 2015

Geburtstag 2015 mit Kölner Märtyrern, Heiligen, Jungfrauen, Huren, Schreckenskammer, Freunden

Besucher und Büstenreliquiare in der Goldenen Kammer
St. Ursula
Anlässlich unseres Geburtstages treffen wir uns mit Freunden auf dem Ursulaplatz. Mit Stadtführer Günter Leitner besichtigen wir die romanische Basilika St. Ursula(1) und schlendern durch Ursula- und Eigelstein-Viertel(2). Sachkundig informiert Günter Leitner über Stadtgeschichte, Ursula-Legende(3), Reliquienkult(4), Architektur und unterhält uns mit humorig-hintersinnigen 'Verzällcher'(5) über Mentalität und Lebensart in kölschen 'Veedeln'(6).
Nicht weniger unterhaltsam, aber etwas gemütlicher, setzt sich die Veranstaltung im Brauhaus Schreckenskammer(7) fort. In einem launigen Beitrag verrät Peter eine in Köln nicht 'verzällte' Fußnote zur Ursula-Legende. Überraschend erfahren wir, dass in Wirklichkeit nur 10.997 Jungfrauen von ihrer Pilgerfahrt in das Kölner Martyrium zurückgekehrt sind.(8) Diashow der Fotoserie

(1) St. Ursula - kölscher Bärenkult(9)
Die Stadt Colonia Claudia Ara Agrippinensium, aus der Köln hervorging, lag zur Römerzeit im Schnittpunkt strategisch bedeutender römischer Staatsstraßen, an denen Verstorbene außerhalb der Stadt bestattet wurden. Vermutlich im 4. Jh wurde am Ort der Kirche St. Ursula eine Saalkirche auf einem städtischen Gräberfeld an der durch Köln nach Norden führenden römischen Rheintalstraße errichtet. Germanenüberfälle sind für Köln mehrmals bezeugt. Im Krieg gegen Westrom passierten im Jahr 451 Hunnen auf ihem Weg nach Gallien die Stadt Köln.(10) Der Vorbeimarsch belebte die Legendenbildung. Schäden sind nicht überliefert. Bekannt sind dagegen größere Schäden des Vorgängerbaus von St. Ursula durch Wikingerraubzüge im Rheinland in den Jahren 811/2.


Das Wachstum Kölns machte eine Erweiterung der mittelalterlichen Stadtbefestigung notwendig. Bauarbeiten stießen 1106 auf ein großes Gräberfeld römischen Ursprungs. Eine alte Legende jungfräulicher Märtyrerinnen passte zum Fund. Einsetzender Reliquienhandel mehrte den Wohlstand in Köln und ermöglichte den Neubau der Kirche St. Ursula als dreischiffige Emporenbasilika mit flach gedecktem Mittelschiff und kreuzgratgewölbten Seitenschiffen im romanischen Stil. Der gotische Chor an der Ostseite der Basilika wurde im 13. Jh angebaut. Im 17. Jh erfolgten barocke Umbauten und der Ausbau der Goldenen Kammer zum größten Gebeinhaus nördlich der Alpen. Mit der Säkularisierung des Ursula-Klosters unter französischer Herrschaft setzte ab 1802 ein Verfall der Kirche ein, den im späten 19. Jh Rückbauten und fragwürdige Umgestaltungen stoppten. Von der weitgehenden Zerstörung Kölns im 2. Weltkrieg war auch St. Ursula betroffen. Ab 1949 begann der Wiederaufbau. Die letzte umfassende Restaurierung fand 1999-2004 statt. Trotz der Zerstörung verfügt die Kirche der Kölner Stadtpatronin über eine reiche Ausstattung.  

(2) Ursula- und Eigelstein-Viertel - 'dreckelige' Geschichte zieht an und stößt ab

Die wichtigste römische Heerstraße nördlich der Alpen verlief als römische Rheintalstraße durch Köln (Hohe Straße, Marzellenstraße, Eigelstein, Neusser Straße) und führte von Köln über Neuss (Novaesium), Xanten (Colonia Ulpia Traiana) und Nijmegen (Ulpia Noviomagus Batavorum) bis an die Nordsee. Ursula-Viertel und Eigelstein-Viertel liegen an der ehemaligen Römerstraße. Seit Ende des 19. Jh trennt eine Bahntrasse die benachbarten Kölner Altstadtviertel. Durch eine Unterführung gelangen wir zum Eigelstein-Viertel. Der Eigelstein, ehemals ein Abschnitt der römischen Heerstraße, bildet als Altstadtstraße die zentrale Achse eines Stadtteils, der als kölschestes aller kölschen Viertel gilt. Während wir durch Weidengasse, Stavenhof und Eigelstein zur Eigelsteintorburg schlendern, unterhält uns Stadtführer Günter Leitner mit 'Verzällcher'(5) und Informationen zur Historie des 'Veedels'(6).


Der Name Eigelstein leitet sich wahrscheinlich von 'Eichel' her. Kölner deuteten die als Symbol der Unsterblichkeit dargestellten Pinienzapfen auf Grabsteinen eines römischen Gräberfeldes als 'Eicheln' und bezeichneten die Grabsteine als 'Eychelsteyne'.(10) Zur Römerzeit lagen am Eigelstein Glashütten. Im Mittelalter war das 'Veedel'(6) von 'Kappesbuure' (Gemüsebauern), Handwerkern und Gewerbetreibenden bewohnt. In der Neuzeit entwickelte sich das 'Veedel'(6) zu einem multikulturell durchmischten Stadtteil mit zahlreichen Kneipen, Restaurants, kleinen Geschäften und Bordellen. Mitte des 19. Jh. verkam das Viertel zu einem für Prostitution, Suff und Kriminalität berüchtigten 'Milljö' (Milieu). Um 1960 waren ca. 5.000 Prostituierte bekannt. Der Stavenhof galt mit mehreren Bordellen als heißes Pflaster. 1972 wurde die Innenstadt zum Sperrbezirk erklärt. Von 1989 bis 2012 war der Eigelstein Sanierungsgebiet. Straßenprostitution ist jedoch auf der Weidengasse bis heute üblich. Etliche Szenen der Krimiserie 'Tatort' mit Willy Millowitsch als Kommissar Klefisch wurden am Eigelstein und im Stavenhof gedreht.


Die Eigelsteintorburg, eines von vier erhaltenen Stadttoren der mittelalterlichen Kölner Stadtmauer, ist Wendepunkt der Führung durch das 'Veedel'(6). Im östlichen Turmgewölbe ist ein Kutterwrack des im Ersten Weltkrieg versenkten Kreuzers Cöln als Kriegsdenkmal aufgehängt. Die SMS Cöln wurde gleich zu Beginn des Ersten Weltkrieges bei einem Seegefecht vor Helgoland am 28. August 1914 von Schiffen der englischen Kriegsmarine versenkt.





(3) Ursula-Legende - 
Glaube, Liebe, Wahnsinn vs. Nepper, Schlepper, Bauernfänger
Die Legende der heiligen Ursula von Köln kennt mehrere Versionen und zahlreiche Ausschmückungen. Männliche Knochen des Gräberfeldes waren erklärungsbedürftig. Um die Legende stimmig zu gestalten, wurde sie um männliche Figuren angereichert. Die Existenz der Ursulafigur und wesentliche Pfeiler der Legende sind durch keine zuverlässigen Quellen belegbar. Die in der Kirche angebrachte Clematius-Inschrift kann nicht als Beweis gelten. Der Text verweist auf eine grundlegende Renovierung des Kirchengebäudes zu Ehren jungfräulicher Märtyrerinnen. Die Datierung der Tafel als spätrömisch oder karolingisch ist strittig(11). Im Chor der Kirche sind der Ursulaschrein sowie der kunsthistorisch bedeutendere Schrein hl. Ätherius aufgestellt. Ein Bilderzyklus aus der Lochner-Schule (um 1456) stellt die Legende mit 30 Bildern auf 24 Tafeln dar.



Im Chor kann der Besucher zudem auf einem Bilderzyklus mit 30 Bildern auf 24 Tafeln die Geschichte der Hl. Ursula nachvollziehen.
Im Chor kann der Besucher zudem auf einem Bilderzyklus mit 30 Bildern auf 24 Tafeln die Geschichte der Hl. Ursula nachvollziehen.
Im Chor kann der Besucher zudem auf einem Bilderzyklus mit 30 Bildern auf 24 Tafeln die Geschichte der Hl. Ursula nachvollziehen.
Im Chor kann der Besucher zudem auf einem Bilderzyklus mit 30 Bildern auf 24 Tafeln die Geschichte der Hl. Ursula nachvollziehen.
Im Chor kann der Besucher zudem auf einem Bilderzyklus mit 30 Bildern auf 24 Tafeln die Geschichte der Hl. Ursula nachvollziehen.
In der Gegenwart wird Ursula als reine Legendenfigur und als Ausprägung einer das Märtyrertum glorifizierenden frühchristlichen Todessehnsucht verstanden. Die Zahl von 11.000 Jungfrauen beruht möglicherweise auf einem Lesefehler. In frühen Quellen ist von nur 11 Jungfrauen die Rede. Ob die Angabe 'XI.M.V.' irrtümlich statt als '11 martyres virgines' als '11 milia virgines' gelesen wurde, bleibt der Spekulation überlassen. Lebhafte Phantasie der zur Übertreibung neigenden Kölner begünstigt eine Präferenz für große Zahlen. Ein geschmeidiger Umgang mit Wahrheiten, Pflichten und Versprechen verstärkt die Glaubwürdigkeit großer Zahlen. Einfluss von Geschäftsinteresse liegt nahe. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.(12)





(4) Reliquienkult - innovatives Geschäftsmodell des Köln-Tourismus und seine Nachwirkung
Mit den Reliquien der Heiligen Drei Könige und der 11.000 Jungfrauen entwickelte sich die Stadt im Mittellter zur 'Sancta Colonia Dei Gratia Romanae Ecclesiae Fidelis Filia' (Heiliges Köln von Gottes Gnaden, der römischen Kirche getreue Tochter). Bereits der Codex Theodosianus (386) verbot den Verkauf von Märtyrergebeinen. Das Verbot entfaltete keine Wirkung. Das 4. Laterankonzil (1256) bekräftigte das Verbot des Verkaufs und der Zurschaustellung von Reliquien. Der Reliquienhandel reagierte kreativ. Er verpackte Reliquien in Behälter, verkaufte offiziell nur die Verpackung und deklarierte den Inhalt als kostenlosen Bonus. 'Et hillije Kölle' wuchs zur bedeutendsten Wallfahrtsstadt nördlich der Alpen. 'Wallfahrts-Tourismus', Reliquienhandel und skrupelloser Geschäftssinn verhalfen Köln, zu einem der größten und mächtigsten Handelsplätze nördlich der Alpen aufzusteigen. Mit der Reformation verschärft sich Kritik am Reliquienhandel. Das Konzil von Trient (1563) empfiehlt Reliquienverehrung ausdrücklich als politisches Mittel der Gegenreformation.

Wie wichtig diese Reliquien für Köln waren und noch immer sind, verdeutlichen die Heilige Ursula als Stadtpatronin und Symbole des Kölner Stadtwappens. Tourismus ist auch in der Gegenwart ein relevanter kölner Wirtschaftsfaktor. Laut Daten von KölnTourismus zum Jahr 2014 buchten 3,3 Millionen Gäste 5,4 Millionen Übernachtungen. Kölner sind sich ziemlich sicher, dass der 'leeve Jott', den sie sich als gutmütigen, humorigen älteren Herren vorstellen, nicht nur wohlgefällig auf die Stadt und ihre Bewohner schaut, sondern Kölner besonders gern hat und ihnen darum im Himmel einen Platz an seiner Seite reserviert.
Noch immer repräsentiert der Kölner Dom ehemalige Macht und Herrlichkeit der Stadt als nicht zu übersehendes Monument. Politische Macht und Glanz der Stadt sind Vergangenheit. Die prunkvolle Vergangenheit ist im kollektiven Gedächtnis ihrer Bewohner tief verwurzelt und verleiht Kölnern eine immunisierende Selbstgefälligkeit gegen alle offen zu Tage liegenden Übel der Stadt.

Sofern deutlich sichtbare Unzulänglichkeiten und Missstände der Stadt von Kölnern überhaupt wahrgenommen werden, sehen sie über solche 'läppschen' Defizite hinweg und erklären Köln zur schönsten, lebenswertesten und liebenswürdigsten Stadt des Erdballs oder gar des Universums. Die Widersprüchlichkeit kölscher Wahrnehmung zeigt sich u.a. am Beispiel 'FC' (1. FC Köln), der seit vielen Jahren eigenen Ansprüchen und Erwartungen seiner Anhänger nicht gerecht wird, trotzdem alljährlich ein Dauerkartenkontingent von 25.000 Kartren ausverkauft, unabhängig vom Gegner im stets gut gefüllten Stadion spielt und 'quasi' der beste Verein überhaupt ist.
Ein Kölsch-Zapfhahn am Weihwasserbehälter der Kirche St. Ursula ist über seine Funktion als Ventil hinaus mit Überschussbedeutung geladen. Als Symbol verweist der Zapfhahn zunächst auf das benachbarte Brauhaus Schreckenskammer, Schlussstation unserer Runde. 'Philosophisch' betrachtet lässt sich der Zapfhahn als Symbol der Verzahnung von Frömmigkeit und Kommerz mit kölscher Mentalität und köln-spezifscher Wahrnehmung deuten. Kölner dürften vermuten, dass der 'leeve Jott' beim Anblick schmunzelt. Dass der 'Heerjott' sich mit Grausen abwenden könnte, liegt als Option außerhalb kölscher Vorstellungskraft.



(5) 'Verzällcher'
'Verzällcher' (Plural von 'Verzällche', Dinumitiv von Verzäll') sind 'Erzählungen' unterschiedlicher Art. Je nach Kontext können sachliche Erzählung, Gespräch, Gerede, Schwatz, Schwätzchen, Geschwätz, Tratsch gemeint sein. Die Form des Dinumitivs als 'Verzällche' ist insbesondere gebräuchlich für humorig-geschwätzige Anekdoten und unglaubwürdige Aufschneiderei.

(6) Veedel
'Veedel' (kölsch für Kölner Stadtviertel) sind Kristallisationspunkte von Heimatgefühlen. Als 'Veedel' bezeichnen Kölner solche Stadtviertel, die sich aus historisch gewachsenen Lebenszusammenhängen entwickelt haben und Bewohner sich als emotional zusammengehörig identifizieren. 'Veedel' sind nicht zu verwechseln mit Stadtbezirken der Verwaltungs-Organisation eines Stadtraums.

(7) Brauhaus Schreckenskammer - "Et es bekannt, dat man uns nit kennt"


Vis-à-vis der Kirche St. Ursula befindet sich das Brauhaus Schreckenskammer, das vermutlich kleinste und am wenigsten bekannte kölner Brauhaus, in dem für den Abend reserviert ist. "Et es bekannt, dat man uns nit kennt", wird der Inhaber Herrmann-Josef Wirtz in einem Artikel des Kölner Stadt-Anzeigers zitiert: Kölsches Unikum. Überwiegend sind Bewohner des 'Veedels' und Gäste aus dem Kölner Umland anzutreffen. Touristen bilden eher die Ausnahme. Aber das könnte sich leider ändern, denn im Februar dieses Jahres porträtierte ein Artikel der FAZ einen 'Köbes' des Brauhauses (ein ehemaliger Schüler der Schule, an der Irmgard unterrichtet): Der Köbes schenkt dem Karneval ein
In dieser Umgebung setzen wir die Stadtführung mit einem gemütlichen Beisammensein im Freundeskreis fort. Es gibt viel zu 'verzälle', weil wir die meisten der anwesenden Freunde nach längerer Reise zum ersten Mal sehen. Um mit allen Anwesenden ausführlicher zu sprechen, ist der Abend zu kurz und die Gruppe zu groß. Trotzdem ist das Wiedersehen schön. Einen intensiveren Austausch werden wir sukzessive in den nächsten Wochen in kleineren Kreisen nachholen.    

(8) Peters Recherchen - 11.000 Jungfrauen nachgezählt

Peter gibt sich mit Legenden nicht zufrieden. Wie es sich für einen gewissenhaften Pädagogen ziemt, prüft er Quellen und zählt die Jungfrauen. Seine Recherchen erweitern die Ursula-Legende um eine kuriose Fußnote. Nach der päpstlichen Taufe in Rom reist Ursula mit ihren Begleiterinnen rheinabwärts in Richtung Köln dem geweissagten Märtyrium entgegen. Drei namentlich bekannte Begleiterinnen, Chrischona, Odilie und Margarethe, erfahren einen Sinneswandel. Sie wollen dem erwarteten Märtyrium entgehen und verlassen den Tross, um in Basel zu bleiben. Schweizer sind bekanntlich humorloser als Kölner. In Basel werden die drei abtrünnigen Begleiterinnen als Einsiedlerinnen auf Hügel außerhalb der Stadt verbannt. Dass nur 10.997 Jungfrauen von ihrer Pilgerfahrt nach Köln zurückkehren, erregt in Köln kein Aufsehen. Vermutlich wird der Schwund eher 'aktiv' verschwiegen bzw. unter den Teppich gekehrt. Wer sich fragt, wie derartige Vorfälle in Köln verarbeitet werden, sei auf das Rheinische Grundgesetz verwiesen.

(9) Ursula
Der Name Ursula bedeutet im Latainischen 'kleine Bärin'. Die Verehrung der heiligen Ursula trägt zur Verbreitung des Namens bei. Im deutschsprachigen Raum ist Ursula seit 1890 der häufigste weibliche Vorname. Bärenkulte sind in animistischer Denkweise weit verbreitet.

(10) Spiegel-Artikel zur ethnischen Einordnung von 'Hunnen':
Attila und die Hunnen, das mysteriöse Steppenvolk)

(11) Express-Artikel zur Etymologie von 'Eigelstein':
Adler oder Eichel? Mythos Eigelstein: Forscher lösen Rätsel um Namen

(12) Portal Reinische Geschichte des LVR:
Ursula 

(13) Abriss zur Geschichte der Reliquie in 'Der Spiegel 6/72011': Heilige Nägel und Knochen 

Weiterer Beitrag zu 'uns kölsche Heimat': Unperfektes als Kultur und Lebensprinzip - Levve en Kölle, Düx un de schäl Sick

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