Mittwoch, 29. November 2017

Underground Railroad - Colson Whiteheads faszinierende Erzählung, weißer Rassismus, vergeigte Lesung (Update 04.03.2018)

Publikum der Lesung in der Aula Königin-Luise-SchuleColson Whitehead Mit Underground Railroad projiziert Colson Whitehead eine ebenso faszinierende wie verstörende und provozierende Erzählung auf im nachfolgenden Abschnitt skizzierte Kontexte. Erst in diesem Kontext erschließen sich politische Wucht und Reichweite der Erzählung jenseits ihrer unzweifelhaften literarischen Qualität.(1) Am 29. November 2017 bietet eine Lesung des Autors Gelegenheit zur Vertiefung eigener Leseerfahrung. Offensichtlich teilen viele Menschen unsere Absicht. Die Aula der voll besetzten Königin-Luise-Schule, in der die Lesung stattfindet, verlassen wir nach 1,5-stündiger Veranstaltung enttäuscht.(2) - Fotogalerie

Anmerkungen zu historisch-politischen Hintergründen
Denkmal einer Sklaven-Plantage in Edgard, Louisiana Zu Recht sind US-Amerikaner stolz auf ihre Bill of Rights, jene am am 15. Dezember 1798 verabschiedeten 10 Zusatzartikel der Verfassung der USA, die auf Ideen der Aufklärung basierende unveräußerliche Grundrechte zusicherte.(3) Allerdings darf nicht übersehen werden, dass diese Rechte zunächst nur für weiße europäische Migranten galten. Indigene Ureinwohner des Kontinents waren zu dieser Zeit bereits zu ca. 90 % ausgerottet. Überlebenden Ureinwohnern wurden Bürgerrechte bis 1924 vorenthalten. Noch 1940 verweigerten sieben US-Staaten ihnen das Wahlrecht. Erspart blieb Ureinwohnern das Sklaventum, auf dessen Grundlage sich Reichtum und Macht der USA entwickelten.(4)
Die Mehrzahl weißer US-Amerikaner erkannte und erkennt noch immer in diesen Sachverhalten keine Widersprüche, weil Ureinwohner und Farbige nicht als gleichwertige Menschen, sondern wie Tiere als 'Sache' oder als 'Ware' galten und gelten. Erst nachdem mehr als 600.000 Menschen den 4-jährigen Sezessionskrieg in blutigen Schlachten mit ihrem Leben bezahlten(5) und die Union der Nordstaaten über die Konföderation der Südstaaten siegte, endete Sklaverei 1855 formell in den USA.(6) De jure besaßen Schwarze volle Bürgerrechte seit 1865, aber bis 1964 bestand ein umfassendes System der Rassentrennung, durch das Afroamerikaner gegenüber Weißen in fast allen Lebensbereichen benachteiligt waren.(7) Am 2. Juli 1964 unterzeichnete Präsident Johnson den Civil Rights Act von 1964 zur Gleichstellung farbiger Bürger.

Politische Systeme können gegen rassistischen Terror, für den totalitäre politische Regime und monotheistische Religionen besonders anfällig sind, gesetzliche Tabuschranken errichten und diese juristisch sanktionieren.(8) Gesetze können keine Überzeugungen und Emotionen kontrollieren. Rassismus beschränkt sich nicht auf gewalttätige Ausübung von Macht. Er umfasst Diskriminierungen, die auf Gesinnungen in Köpfen von Menschen beruhen und Handlungen von Menschen beeinflussen. Nicht nur in den USA (dort jedoch offensichtlich) ist Rassismus ein soziales und politisches Alltagsphänomen, das in vielfältigen Ausprägungen symbolischer Gewalt und sozialer Segregation auftritt. Die internationale Diskussion dieser Phänomene fassen die Stichworte 'Weißsein' (Whiteness), 'kritische Weißseinsforschung' (Critical Whiteness), weiße Vorherrschaft (White Supremacy) zusammen.(9) Wenn Colson Whitehead in einem Interview erklärt: "Rassismus endet nie"(10), ist zu befürchten, dass er Recht hat und soziale Gerechtigkeit eine Utopie bleibt.(11)

Anmerkungen zum Roman 'The Underground Railroad'
Buchhandlung Bittner, Köln, Albertusstraße Colson Whitehead geht es nicht um präzise historische Zeitlinien, diese zu rekonstruieren ist Aufgabe von Historikern. Colson Whiteheads literarische Anliegen betrachten zeitlose historische Wahrheiten. Die Handlung des Romans versetzt der Autor in die Zeit um 1850 und verknüpft in dieser Handlung historisch bezeugte Gräuel in der Zeit der Sklaverei mit erst im 20. Jahrhundert einsetzenden staatlichen Zwangs-Sterilisierungsprogrammen, denen in den USA mehr als 60.000 überwiegend Afro-Amerikaner ausgesetzt waren und noch immer ausgesetzt sind.(12)
Eine Underground Railroad gab es tatsächlich, jedoch nicht als physisches Transportmittel, sondern als Deckname eines geheimen Fluchthilfe-Netzwerks der Abolitionismus-Bewegung (Gegner der Sklaverei). Weiße Mitglieder dieser Bewegung verhalfen mit Unterstützung freier Schwarzer und befreiter Sklaven vermutlich bis zu ca. 100.000 Sklaven zur Flucht. Wenn Colson Whitehead die Metapher der Underground Railroad in ein geheimes unterirdisches Eisenbahnnetz transformiert, ist diese Übersetzung einer Matapher mehr als eine Analogie. Die Underground Railroad transportiert Hoffnung in eine Welt monströser Bösartigkeit. Ihr Betrieb muss im Geheimen stattfinden, weil der Betrieb Interessen dominierender Mächte unterläuft und diese den Betrieb mit aller Gewalt bekämpfen würden, sobald sie ihn gewahr würden.(13)


Colson Whitehead und Marion Mainka Haupt-Protagonisten des Romans sind das Sklavenmädchen Cora, ihre Mutter Mabel, ihre Großmutter Ajarry und der Sklavenjäger Ridgeway.
Ridgeway verkörpert weiße Ideologie. Ungleichheit und Herrschaft sind für ihn gottgewollt. Im Kampf um das Leben und um Macht über Ressourcen befinden sich Stärkere vermeintlich im Recht, weil sie über die Macht verfügen, Rechtsordnungen und 'göttlichen Willen' zu 'erfinden'. Ähnlich wie ein Henker übt Ridgeway ein ethisch reingewaschenes schmutziges Handwerk aus, das auf legalem Recht basiert und legalem Recht zur Geltung verhilft. Ridgeway scheitert und endet qualvoll. Wenn er trotz aller von ihm zu verantwortenden Grausamkeiten zuletzt Emotionen des Mitleids erregt, glimmt ein schwacher Funken Hoffnung in einer düsteren, von Gewalt und Brutalität beherrschten Welt, deren Rechtssysteme Unrecht legalisieren.
Während in der Figur Ajarry Harriet Beecher Stowes Sklaven-Erzählung Onkel Toms Hütte (1852) durchschimmert, ist die Figur Cora von Harriet Ann Jacobs Sklaven-Erzählung Erlebnisse aus dem Lebens eines Sklavenmädchens (1861) inspiriert. Religion zementiert Unrechts-Verhältnisse mittels metaphysischer Transzendierung. Colson Whitehead umschifft diesen kollektiven Irrtum und schreibt historische Sklaven-Erzählungen neu. Coras und Mabels Schicksale sind frei von jener religiösen Demut und Duldung zugefügten Unrechts, das Onkel Toms Hütte durchzieht. Im Unterschied zu Ajarry sind Cora und Mabel tragische Figuren. Alle drei wissen, dass sie einem Programm der Entrechtung, Unterdrückung und Vernichtung von Schwarzen durch Weiße, von Menschen durch Menschen ausgesetzt sind und dass Hoffnung auf Gerechtigkeit in Anbetracht der Machtverteilung Illusion bleibt.
Einsichten führen sie auf unterschiedliche Wege. Ajarry agiert pragmatisch. Sie fügt sich in ihr Schicksal und weicht brutaler Macht durch geschicktes Taktieren aus. Cora und Mabel widersetzen sich der an ihnen verübten Gewalt. Beide flüchten. Sie ziehen der Duldung des an ihnen verübten Unrechts hoch wahrscheinliche Optionen von Folter und tödlicher Gewalt vor. Mabel entzieht sich mit der Flucht ihrer mütterlichen Verantwortung. Sie lässt ihre Tochter Cora zurück. Mabels Schicksal bleibt lange im Dunkel. Die Aussichtslosigkeit ihrer Flucht klärt der Autor erst gegen Ende der Erzählung auf. Cora lädt auf der Flucht ebenfalls Schuld auf sich. Sie beginnt ihre Flucht gemeinsam mit Caesar, ein Sklave mit Kontakten zur Underground Railroad. Im Kampf tötet Cora aus Notwehr einen weißen Jungen. Weißer Mob macht irrtümlich Caesar für den Tod des Jungen verantwortlich und lyncht Caesar. Cora kommt der Freiheit näher als Mabel oder Caesar. Ob sie tatsächlich ihre Freiheit erreicht, lässt der Autor offen.

Die Erzählung zieht keine eindeutigen Grenzen zwischen Gut und Böse. Weiße sind nicht nur bösartig und Schwarze nicht nur edel. Keiner der Protagonisten des Romans ist frei von Schuld. Die eigentlichen Helden der Erzählung sind nicht deren Hauptprotagonisten, sondern die Betreiber der Underground Railroad, über die und über deren Tun wir wenig erfahren. Entgegen jeder formalen und sozialen Norm gehen die Helfer flüchtiger Sklaven ein ihr eigenes Leben bedrohendes hohes Risiko ein, obwohl sie aus ihrem Tun keinen persönlichen Nutzen beziehen. Eine humanistische Vision und die innere Haltung tiefer Menschlichkeit motivieren ihr Handeln.(14)

Anmerkung zur Lesung mit Colson Whitehead am 29.11.2017
Lesung mit Colson Whitehead Die Lesung mit Colson Whitehead moderiert Sabine Sielke, Kulturwissenschaftlerin und Inhaberin des Lehrstuhls für Literatur und Kultur Nordamerikas an der Universität Bonn. Schauspielerin, Sprecherin und Moderatorin Marion Mainka liest im Wechsel mit dem Autor kurze Passagen aus dem Roman. Das Setting stimmt zuversichtlich, aber Sabine Sielke ist in ihrer Doppelrolle als Moderatorin und Übersetzerin überfordert oder schlicht eine Fehlbesetzung. Im Stil eines literarischen Uni-Seminars monologisiert sie mehr nuschelnd als erklärend über eigene Gedanken zum Roman. Ihre Statements betreffen eher formale und für das kundige Auditorium selbsterklärende Aspekte der Story. Wir vermissen vertiefend bohrende inhaltliche Fragen. Wenn Sabine Sielke endlich ihre Statements an den Autor weiterreicht, pariert dieser enttäuschend inhaltsarme Fragen freundlich und vielleicht auch mitleidig lächelnd mit lakonischen Antworten. Für uns ist die Veranstaltung ein Flop. Den Abend hätten wir angenehmer und interessanter gestalten können.

Anmerkungen
  1. Der Roman Underground Railroad behauptete sich 32 Wochen in der Bestsellerliste der New York Times und findet im historisch Rassismus-affinen und gegenwärtig Rassismus-sensibilisierten Deutschland großes Interesse. Alle relevanten Publikums-Medien berichten über das Buch.
    Eine unvollständige Liste von Rezensionen: 
    * Christoph Bartmann, Süddeutsche: Geraubte Körper bearbeiten geraubtes Land
    * Andreas Eckert, FAZ: Wer hat für die Freiheit gearbeitet?
    * Anne Haeming, Spiegel: Der Horror des Vorgestern  
    * Christian Schröder, Tagesspiegel: Aufstand einer Sklavin
    * Martin Ebel im Deutschlandfunk: Enzyklopädie der Dehumanisierung
    * Colson Whitehead im Gespräch mit Joachim Scholl, Deutschlandfunk: Gewalt, die man sich nicht ausdenken kann
    * Carsten Otte, SWR 2: Buch der Woche - Underground Railroad
    * Jan Ehlert, NDR: Eine unterirdische Eisenbahn führt in die Freiheit 
  2. Die Lesung veranstaltete die engagierte Kölner Buchhandlung Bittner in Zusammenarbeit mit dem Amerikahaus NRW und dem Hanser-Verlag, der die deutsche Ausgabe des Buchs verlegt. Enttäuscht sind wir, weil die Moderatorin der Veranstaltung die Lesung in unergiebige Flachgewässer navigiert und politische Minenfelder umschifft. Ob der Kurs dem Amerikahaus NRW als Mitveranstalter geschuldet ist, bleibt Spekulation.  
  3. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari macht in seinem Buch "Eine kurze Geschichte der Menschheit" auf den Sachverhalt aufmerksam, dass sog. 'Menschenrechte', die auf der 'Bill of Rights' basieren, eine von Menschen erfundene erfundene Ordnung intersubjektiver Art darstellen. Erfundene Ordnungen wie Menschenrechte, Geld, EU, Religionen etc. sind Produkte menschlicher Phantasie, die nur darum vermeintlich existieren, weil eine große Anzahl von Menschen an diese Ordung glaubt, sie als real annimmt und diese Ordnungen darum mit unserer materiellen Welt verwoben sind. 
  4. In europäischen Kolonien des amerikanischen Kontinents wurde schwere körperliche Arbeit von Sklaven verrichtet. Innerafrikanisch betrieben insbesondere arabische und afrikanische Händler die Sklavenjagd. Sie verkauften ihre Beute an europäische Sklavenhändler, die per atlantischem Skalvenhandel die Logistik für den Bedarf englischer, französischer, spanischer und protugiesischer Kolonien übernahmen. Insgesamt ca. 12 Millionen Afrikaner wurden wie Vieh nach Nord- und Südamerika sowie in die Karibik verfrachtet. Ca. 4 Millionen Sklaven waren für die Plantagenwirtschaft der Südstaaten bestimmt. Mit Sklaven als Leistungsträger wirtschafteten Pflanzer in den Südstaaten äußerst erfolgreich und erzielten großen Reichtum. (Wikipedia: Sklaverei in den Vereinigten Staaten)
  5. Die Welt: Bürgerkrieg - Das blutigste Gemetzel, das die USA je erlebten
  6. Sklaverei endete formell in den USA nach 4-jährigem Sezessionskrieg am 18. Dezember 1865 mit der Ratifizierung des 13. Zusatzartikels zur Verfassung. Der am 28. Juli 1868 verabschiedete 14. Zusatzartikel zur Verfassung der USA stellt alle Menschen, ungeachtet ihrer Rasse, unter den Schutz der Gesetze der USA und sichert Gleichbehandlung zu. 
  7. Wikipedia: Geschichte der Afroamerikaner
  8. Was nicht besagt, dass Sklaverei in der Gegenwart eliminiert ist. Lt. australischer Menschenrechtsorganisation 'Walk Free Foundation', die den Global Slavery Index ermittelt, sind 45,8 Millionen Menschen in 127 Ländern im Jahr 2016 von Sklaverei betroffen. (Spiegel: Mehr als 45 Millionen Menschen leben weltweit als Sklaven)
  9. Artikel zur Thematik 'Critical Whiteness':
    * Wikipedia: Weißsein, Weiße Vorherrschaft
    * Der Tagesspiegel: Die unsichtbare weiße Norm
    * Deutschlandfunk: Weißsein als Privileg
  10. Kölnische Rundschau: Whitehead über "Underground Railroad" und Amerikas Erbsünde
  11. Relevanz und Brisanz der Thematik in der Gegenwart vermitteln Wikipedia-Artikel über den Schriftsteller James Baldwin und über ermordete führende Persönlichkeiten der Bürgerrechtsbewegung: Medgar Evers, Martin Luther King jr., Malcolm X
    Raoul Pecks Dokumentarfilm I Am Not Your Negro vermittelt äußerst eindrücklich die Dramatik des US-amerikanischen Rassismus und die Tragik der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung.
  12. US-Wissenschaftler behaupteten, soziale Probleme wie Armut und Kriminalität seien vererblich, weshalb sie empfahlen, die 'anglo-amerikanische Rasse' zu schützen, indem 'Minderwertige' (Behinderte, Alkoholiker, Prostituierte, Obdachlose, Straffällige) an der Zeugung von Nachwuchs gehindert werden. Sterilisierungsgesetze bestanden in 32 US-Bundesstaaten. 1981 lief das Programm aus. (Spiegel: Die verdrängte Schande
  13. Eine sehenswerte künstlerisch-fotografische Bearbeitung der Erzählung bietet Jeanine Michna-Bales: Through Darkness to Light: Seeking Freedom along the Underground Railroad (mit Klick in ein Foto startet eine Diashow)
  14. Für den US-Historiker Ibram X. Kendi sind abolitionistische Haltungen nicht unbedingt frei von Rassismus. 
    Rezensionen zu Ibram X. Kendis Studie 'Gebrandmarkt - Die wahre Geschchte des Rassismus in Amerika':
    * Arlette-Louise Ndakoze im Deutschlandfunk: Eine andere Geschichte der USA
    * Tobias Rapp, Spiegel: Nichts hat sich geändert
    * Michael Hochgeschwender, FAZ: Rassismus in Amerika - Unterjocht  
    * Christian Staas, Zeit: Rassismus in den USA - Grausame Unlogik

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