Festspielhaus Recklinghausen |
Unser Festspieltag ist der 13.05.2012. Christian Brückner ist für seine Sprechleistungen bereits vielfach ausgezeichnet und gilt in Deutschland als 'The Voice'. Er liest am Vormittag aus 'Die Reise nach Petuschki' von Wenedikt Jerofejew. Musikalisch wird er von seinem Sohn, Kai Brückner, begleitet. Kai Brückner ist ein exzellenter Jazzgitarrist, der eine Ausbildung bei keinem Geringerem als John Abercrombie absolviert hat.
Vater und Sohn bieten einen hinreißenden Vortrag, der bereits alleine die Fahrt nach Recklinghausen rechtfertigt. Wir haben jedoch Tickets in der Tasche für einen Theaterabend im großen Festspielhaus. Den Nachmittag überbrücken wir zunächst mit einem Branchbuffet, das die Gastronomie des Festspielhauses anbietet. Das Preis-Leistungs-Verhältnis ist sehr überzeugend. Anschließend gehen wir am Stausee bei Haltern spazieren.
Zeichnung von Tilo Baumgärtel, Leipzig |
Fazit
Wer sich diese Inszenierung anschaut, sollte wissen, dass Sebastian Hartmann keine subtile Schaubühne inszeniert, die Zuschauer 'vergnügen' möchte. Sebastian Hartmann ringt um Wahrheit und will Botschaften vermitteln, obwohl uns als einzige Gewissheit unsere Unwissenheit bleibt und wir darum letztlich auch nicht wissen können, ob Wahrheit möglich ist. Um eine inhaltliche Auseinandersetzung bzw. den Kampf um Erkenntnis zu stimulieren, packt Sebastian Hartmann gerne die große Keule in Form von Provokationen aus und sucht bewusst Reibung mit Zuschauern, die er in das Spiel einzubeziehen versucht. Die Voraussetzungen versprechen einen spannenden Abend, der im Ergebnis sein Versprechen mit einer kraftvollen Inszenierung und eindrucksvollen Bildern einlösen sollte.
Über fast 5,5 Stunden (inkl. zweier Pausen) hält der Abend seinen Spannungsbogen auf hohem Niveau. Gute Regieeinfälle, äußerst engagierte Schauspieler, die bis zur Grenze der Erschöpfung agieren, ein großartiges Bühnenbild und interessante Life-Musik sind die Zutaten eines vielleicht nicht ganz großen, aber eines insgesamt sehr gelungen Theaterabends. Das ohnehin nicht ausverkaufte große Festspielhaus ist am Ende nur noch zu etwa 1/3 besetzt, was wir in Anbetracht der mutigen Inszenierung und der dargebotenen Leistungen als schade empfinden. Vermutlich waren viele Zuschauer letztlich doch überfordert oder mit ihre Erwartungshaltung einfach im falschen Film.
Inspirationen(?)
Wer 1984 Robert Wilson's grandioses Bühnenwerk 'the CIVIL warS' erlebt hat, an deren deutscher Inszenierung Heiner Müller als Dramaturg mitwirkte, wird viele Parallelen entdecken. Vermutlich dürfte Sebastian Hartmann von 'the CIVIL warS' inspiriert sein. Ein Vergleich von 'Krieg und Frieden' mit 'the CIVIL warS' ist in Zeiten schrumpfender Kulturetats sicher nicht fair, weshalb dieser Vergleich auch unterbleiben soll. Der Hinweis auf 'the CIVIL warS' erscheint trotzdem als berechtigt, weil er Dramaturgie und Inszenierung von 'Krieg und Frieden' charakterisiert. Weitere Parallelen glauben wir auch zu 'Space Odyssee' zu erkennen, Stanley Kubrick's ultimativem, zeitlosem Science-Fiction-Film, dessen Wucht uns 1968 sprachlos machte. Robert Wilson und Stanley Kubrick genießen nicht ausschließlich Zustimmung, aber sie zählen zweifellos zu den ganz großen Regisseuren, deren Inspiration unvergängliche Werke hervorgebracht hat. Wer Inspiration von großen Vorbildern sucht, ist gut beraten. Robert Wilson scheute sich ebenfalls nicht, Sequenzen des legendären Films 'Koyaanisqatsi' für 'the CIVIL warS' zu übernehmen.
Inszenierung
Die Inszenierung in Recklinghausen gliedert 'Krieg und Frieden' in drei Teile, zwischen denen jeweils eine Pause liegt. Die Teile kennen keine durchgängigen Handlungsstränge, sondern sind als Collage einzelner Szenen zusammengefügt. Die Szenen verbindet Life-Musik einer herausragenden dreiköpfigen Gruppe. Ihre Musik ordnet sich keinem Genre unter und weckt Assoziationen an Mogwai, Radiohead, Philip Glass und David Byrne. Die Bühne besteht lediglich aus zwei großen Plattformen, von denen eine den Bühnenboden und die andere den Bühnehimmel bildet, dessen Technik zugleich Lichteffekte ermöglicht. Mittels Hydraulik lässt sich die Ausrichtung der Plattformen während der Spielzeit variieren, so dass trotz der minimalistischen Ausstattung immer wieder neue, interessante Bilder und Effekte entstehen. Meistens agieren die Schauspieler auf einer schiefen Ebene, die dem Bewegungsablauf Widerstand entgegensetzt. Kriegsaktionen sind häufig von Nebel- und Knalleffekten begleitet.
Den Bezug zu Tolstois Vorlage, deren epische Breite das Theater nicht wiederzugeben vermag, lassen Inhalte, Figuren und auch Textpassagen durchaus erkennen. Mit fortschreitender Spieldauer löst sich die Inszenierung immer mehr von Tolstois Vorlage und erinnert phasenweise an absurdes Theater.
Inhalt
Den inhaltlichen Zusammenhang stellen - bereits bei Tolstoi angelegte - bipolare, abstrakte Themenfelder her, wie Krieg und Frieden, Leben und Tod, Liebe und Hass, Freiheit und Unfreiheit. Sebastian Hartmann verdichtet die thematischen Metaphern des historischen Bezugs zu solchen zeitlosen Fragen der Menschheit, wie sie im Alltagsverständnis gerne als Gegenstand von Philosophie aufgefasst werden (ohne Philosphie zu repräsentieren). Spielszenen variieren diese Themen und leuchten sie aus unterschiedlichen Perspektiven aus.
Die Inszenierung legt nahe, dass Napoléons Russlandfeldzug letztlich darum scheiterte, weil Napoléon in seinem Größenwahn dem irrtümlichen Glauben unterlag, Kontrolle über ein komplexes Geschehen ausüben zu können, das sich in der Realität jeder menschlichen Kontrolle entzieht. Napoléon wird als eine Figur entlarvt, die nicht tragisch, sondern absurd scheitert. Auf der Gegenseite ist die russische Armee nicht wegen ihrer Überlegenheit erfolgreich, sondern wegen ihres Nicht-Handelns. General Kutúsow erkennt die Situation als absolut unbeherrschbar. Da die Entwicklung nicht vorhersagbar und darum nicht kontrollierbar ist, wartet er die Entwicklung einer Situation ab, die ihren eigenen Gesetze folgt. General Kutúsow lässt die Situation reifen und ist am Ende des Tages ein Sieger, der wegen vermeintlicher Feigheit verspottet wird. Handeln erzeugt ebenso wie Nicht-Handeln Tragik. Vermeintliche Wahrheiten erweisen sich entweder als Irrtümer oder als Fallen ohne Ausweg.
Historiker werden als Exegeten entlarvt, die im Nachhinein mit scheinbar wissenschaftlichen Methoden Kontexte für Ereignisse und Veränderungen unserer dynamischen Welt erfinden. Sie erzeugen die Illusion scheinbar zielgerichteter Prozesse und ermöglichen damit vermeintlich ein Verstehen von Entwicklungen, das in der Realität keinen Regeln folgt. Tatsächlich betreiben Historiker Politik, indem sie Kausalität erfinden, wo es sie nicht gibt, die Wahrheit verdängen und glänzende Helden konstruieren. Zar Alexander I., dessen Einfluss auf das Kriegsgeschehen unbedeutend ist, wird zu einem solchen Helden. Täuschungen und Lügen von 'Historikern' oder sonstigen als 'Wissenschaftler' getarnten Scharlatanen scheinen Menschen gerne zu akzeptieren. Die Botschaften vermitteln sinnstiftende 'Wahrheiten', die gierig aufgesogen werden. Der große Schwindel wird übersehen. Diese Botschaft ist zu unbequem. Dass sich komplexe Zusammenhänge nicht schlichten menschlichen Vorstellungen von Kausalität fügen und Geschichte nicht von 'Sinn' getrieben wird, ist für viele Menschen schwer zu ertragen. Warum suchen sie sonst Trost für ihre Leiden in der Religion?
Gedanken sind nicht ungefährlich! Unsere eigenen Gedanken können noch so edel sein, trauen können wir ihnen nicht. Die im 18. Jahrhundert aufblühenden Ideen der Aufklärung über Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit erzeugen Chaos, Gewalt und Krieg in vorher nicht gekannten Dimensionen. Der Weg, den Kant als "(...) Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit" deklariert erweist sich als Abkürzung zur Hölle.
Was ist mit unseren großen Gefühlen vom Leben und vom Sterben, von der Liebe und vom Hass? Die Figuren der Handlung sind in Hartmanns Inszenierung wie bei Tolstoi ständig verliebt und ergriffen von der Reinheit ihrer tief empfunden Gefühle. Bei genauerer Betrachtung entlarven sich diese Gefühle als Selbstverliebtheit, weshalb die Aussicht auf Ruhm oder auf eine neue Liebschaft über allen zwischenmenschlichen Werten steht. Der alte Fürst Bolkónski hat eine abgeklärte Sicht auf die Welt und betätigt sich als Strippenzieher. Er will auf General Kutúsow einwirken, der in seiner Schuld steht, damit dieser seinen in den Krieg ziehenden Sohn Andréj abseits der Front unterbringt. Gleichzeitig erklärt er seinem Sohn Andréj, dass er den Gedanken an eine unehrenhafte Rückkehr aus dem Krieg niemals ertrage könne und darum eher seinen Tod in Kauf nähme. Den Konflikten zwischen Lebenswille, Moral und Ehre entkommt niemand.
Finale
Wir durften gespannt sein, wie ein Stück zu Ende gebracht wird, dessen universelle Thematik weder Anfang noch Ende kennt. Nach einem Beginn um 18:00 Uhr war bereits 23:00 Uhr überschritten, als sich Schauspieler mit Fragen an Zuschauer wendeten:
Obwohl wahrscheinlich auch die meisten der noch verbliebenen Zuschauer nicht frei von Erschöpfung waren - der größere Teil der Zuschauer war inzwischen nicht mehr anwesend - fanden sich diskussionsbereite Zuschauer. Die Dialoge wurden jedoch wie Privatgespräche geführt. Sie mitzuverfolgen war nicht möglich, dafür waren die Stimmen zu leise. Unruhe kam unter den Zuschauern auf. Als eine Fluchtbewegung einsetzte, erging ein Appell an die Zuschauer, doch bitte noch zu bleiben, weil jetzt noch ein kurzer Film gezeigt würde. Trotz sparsamer Mittel erinnert der Film von knapp 10 Minuten Länge spontan an die Schlusssequenz in Kubrick's 'Space Odyssee', in der Zeit und Raum zu verschmelzen scheinen. In Recklinghausen ist die Filmsequenz natürlich um Galaxien von der technischen Brillanz Kubrick'scher Filme entfernt, was jedoch kein Vorwurf ist. Uns beschäftigt eher die Frage, warum wir uns jetzt diesen Film anschauen sollen, der gegenüber den eindringlichen Szenen des Abends flach wirkt und keine neuen Anregungen motiviert.
Vielleicht ging es auch eher um die Musik bzw. die Musiker, die am Ende noch einmal ihr Können unter Beweis stellen. Versöhnlich stimmt in diesem schwächeren Teil der Inszenierung das letzte Bild. Der Film projiziert auf die Bühne einen Sarkophag, in dessen virtuelles Bild sich die Schauspieler als Schlussszene setzen. Mit diesem starken Bild endet die Vorführung. Den großen Applaus mit Standing Ovations der Teilnehmer haben sich die Akteure redlich verdient.
Schade, dass die Fragen vor dem Film eine Fluchtbewegung unter den Zuschauer auslösten und die Diskussion im Sande verlief. Mögliche Antworten sind eigentlich sehr einfach oder schlicht, aber zugleich äußerst schwierig umzusetzen:
Wir müssen aufhören, Wahrheiten zu erfinden oder zu konstruieren! Wir müssen das Lügen einstellen! Wir müssen bescheiden werden! Wir müssen lernen zu verstehen, dass Menschen nicht die Natur beherrschen, sondern Menschen ein Teil der Natur sind.
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