Mittwoch, 3. Juni 2015

Alibis: Sigmar Polke - Retrospektive 1963-2010 im Museum Ludwig, Köln (14. März 2015 - 5. Juli 2015)

Blick aus dem Foyer Museum Ludwig
Sigmar Polke zählt zu den international bedeutendsten deutschen Künstlern zeitgenössischer Malerei. Im Kunstkompass (ein am Kunstmarkt justiertes Ranking weltweit gefragtester Gegenwartskünstler) liegt Sigmar Polke alljährlich in der Spitzengruppe(1), was ihn etliche Jahre nicht motivieren kann, dem Ansinnen einer Retrospektive im Museum of Modern Art nachzugeben. 2008 stimmt er endlich zu, aber sein Tod beendet am 10. Juni 2010 unwiderruflich die Zusammenarbeit mit dem Museum of Modern Art. Weitere 4 Jahre vergehen, bis das MoMA die Retrospektive 'Alibis 1963-2010' ausstellt. Von New York reist die Ausstellung nach London zur Tate Modern, neben MoMA und Centre Pompidou weltweit führendes Museum für Gegenwartskunst. Das Finale gebührt Sigmar Polkes Wahlheimat. Im Kölner Museum Ludwig bietet die Austellung mit einigen Erweiterungen 'großes Kino'. Im Schatten der großen Retrospektive zeigt das Museum im Zeitraum 30. Mai - 22. November 2015 die gleichfalls sehenswerte, aber ungleich kleinere Ausstellung Bernard Schultze zum 100. Geburtstag.(2) Fotoserie - Fotos als Google-Geschichte

Eingang zur Ausstellung 'Alibis' im Museum Ludwig
Wenn der Name 'Polke' fällt, denken wir zuerst und vor allem an Rasterbilder. Die Retrospektive zeigt mit ca. 250 Werken auf 2.000 qm Fläche den ganzen Polke von frühen Arbeiten bis zu seinem Spätwerk, in denen Rasterbilder sich lediglich als Facette eines umfangreichen Schaffens darstellen, das sich gegen jede Festlegung auf Formen, Inhalte, Technik sowie Material sperrt und neben Tafelbildern und Skulpturen auch Fotografien und Filme umfasst. Die Ausstellung im Museum Ludwig wird in ihrer Breite, Tiefe, Qualität und Quantität allen Ansprüchen einer Retrospektive überaus gerecht und findet in der Fachwelt begeisterte Zustimmung.(3) In den Chor des Lobgesangs stimmen wir mit Überzeugung ein. Persönliche Eindrücke können sich jedoch nur auf bekanntlich vage und schnell verblassende Erinnerungen berufen. Innerhalb der Ausstellung ist nämlich Fotografieren verboten. Daher beschränken sich eigene Fotos auf das Umfeld der Ausstellung. Das verlinkte Video der Ausstellung 'Alibi' im Museum Ludwig ist auf der Webseite des Museums veröffentlicht.


Sigmar-Polke-Bild im Foyer Museum Ludwig
Karl Otto Götz und Gerhard Hoehme, Polkes Lehrer an der Kunstakademie Düsseldorf, zählen zu Protagonisten der im Nachkriegsdeutschland dominierenden Stilrichtung des Informels. In Anbetracht von Kriegserfahrungen lehnt die junge Avantgarde etablierte Kunstrichtungen als verlogen, lebensfern, elitär, unpolitisch ab. Mythen vom Künstlertum und kreativen Prozessen entlarvt die Fußnote "Höhere Wesen befahlen".(4) Sigmar Polke, Gerhard Richter, Konrad Lueg und Manfred Kuttner rufen 1963 den Kapitalistischen Realismus aus, um unter dem ironischen Titel Ausstellungen und Performances zu veranstalten. Mit Witz, Ironie und anarchischem Chaos machen sie auf die Oberflächlichkeit einer von Kommerz und Konsum getriebenen Gegenwart aufmerksam, deren Kunstbetrieb sich vermeintlich ebenso in den Dienst von Ideologien stellt wie Kunst des Sozialistischen Realismus. Unübersehbar orientiert sich die junge deutsche Avantgarde an US-amerikanischer Pop Art und reichert ihre Arbeiten um politische Botschaften an. Mit der neo-dadaistischen Bewegung Fluxus wollen 'junge Wilde' verspürte Gegensätze von Kunst und Leben versöhnen, letztlich erfolglos. Als politisch-künstlerische Auseinandersetzung junger Avantgarde mit dem Establishment bleibt Fluxus weitgehend unverstanden. Geschmeidiges Establishment assimiliert bald ehemalige Protagonisten der Bewegung. 

Ohne Titel (1986) im Foyer Museum Ludwig
Auf einem Bauernhof etabliert Sigmar Polke mit einer Künstlerclique in den 70er Jahren eine Landkommune. Angeregt von Hippy-Kultur praktiziert die Clique eine von 'Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll' bestimmte Lebensweise jenseits bürgerlicher Existenz.(5) Auf der Suche nach psychischen und kulturellen Tiefenstrukturen experimentiert Sigmar Polke mit psychodelischen Drogen und begibt sich auf Reisen nach Afghanistan, Pakistan, Mexiko, Brasilien Australien und Papua-Neuguinea. Diese Erfahrungen prägen Polkes 'mittlere Werkperiode'. Im Unterschied zu Martin Kippenberger(6) entkommt Sigmar Polke dem 'live fast, die young'-Paradigma. 1978 zieht er nach Köln, wo er bis zu seinem Tod zurückgezogen lebt und arbeitet.






'Fensterfront' (1994) im Foyer Museum Ludwig
Sigmar Polkes Arbeiten passen in keine Schublade. Als Persönlichkeit verbirgt sich Polke hinter seinen Arbeiten. Er gab keine Interviews und äußerte sich prinzipiell nicht zu seinen Werken.(7) Um seine Öffentlichkeitsscheu ranken sich Anekdoten.(8)
Mit zunehmendem Alter verblassen Witz und politische Botschaften in Sigmar Polkes Arbeiten. Erhalten bleibt Skepsis gegenüber vermeintlicher Evidenz von Wahrnehmung. Illusionen, optische Täuschungen, Vieldeutigkeiten, Zufälle und Unschärfen menschlicher Wahrnehmung beschäftigen Sigmar Polke thematisch über alle Werkperioden hinweg. Unschärfen, Vieldeutigkeit und künstlerischer Pluralismus bilden inhaltlich wie formal berechenbare Konstanten seiner Werke.






In den 80er Jahren beginnt Sigmar Polkes 'alchemistische Periode'. Materialexperimente mit seltenen und teilweise hoch giftigen Farben, lichtempfindlichen Pigmenten, ätzenden Säuren und fluroszierenden radioaktiven Stoffen verleihen seinen Arbeiten eine von Lichteinfall und Altersstruktur abhängige Materialität. Mit nicht kontrollierbarem Verlauf von Farben öffnet Sigmar Polke auf Großformaten dem Zufall Raum. Die Abgrenzung des Frühwerks von Informel und abstraktem Expressionismus ist im Spätwerk aufgehoben. Ein auf der 42. Biennale Venedig 1986 ausgestellter 6-teiliger Zyklus wird mit dem Großen Preis gekrönt.(9) Im Kunstmarkt explodieren Preise für 'Polkes'.(10) Seine Abwehrhaltung gegenüber einer großen Retrospekte im MoMA gibt Sigmar Polke auf und stimmt 2008 dem Ritterschlag des kommerziellen Kunstmarktes zu. Sigmar Polke ist im Kapitalistischen Realismus angekommen und trifft auf seinen alten Kumpel Gerhard Richter.


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