Freitag, 1. September 2017

2 Sterne für Hochkultur, Straßenkunst, Kuriositäten, Folklore, Krempel in Buchheims Museum der Phantasie in Bernried

Museum Buchheim am Starnberger See

Infotafel an der Zufahrt zum Museum Buchheim Im weitläufigen Museumskomplex von Buchheims Museum der Phantasie in Bernried am Starnberger See finden nicht nur Lothar-Günther Buchheims kunsthistorisch bedeutende Expressionisten-Sammlung und dessen heterogene, trivial-bunte sonstigen Sammlungen Platz, sondern auch weitere, eher folkloristische Sammlungen aus Buchheims Umfeld. Räumlichkeiten des Museums erlauben zusätzliche temporäre Sonderausstellungen und Veranstaltungen. Zum Zeitpunkt unseres Besuchs sind zwei sehenswerte Sonderausstellungen zu besichtigen.(1) Mutige Neueinkäufe aus jüngerer Zeit machen deutlich, dass dieses Museum nicht nur bewahren will und sich darum der dynamischen aktuellen Kunstszene nicht verschließt.
Nach dreistündigem Aufenthalt verlassen wir das Museum mit dem Eindruck, längst nicht alles gesehen zu haben und das Gesehene im Schnelldurchgang lediglich gescannt, aber nicht angemessen wahrgenommen zu haben. Dabei haben wir das große Außengelände mit direktem Zugang zum Starnberger See bei bayerischem Schnürregen mit schnellem Schritt durcheilt, und in das Restaurant sind wir gar nicht erst eingekehrt, weil auf dem Weg nach Mittenwald ein Stop am Kloster Benediktbeuern vorgesehen ist.
Hotel- und Gastro-Guides gibt es zur Genüge, vergleichbare Museums-Guides vermissen wir. Für Buchheims Museum der Phantasie vergeben wir in Anlehnung an den Guide Michelin 2 Sterne, es ist einen Umweg wert. Der Eintrittspreis (8,50€ für Vollzahler) umfasst sämtliche Ausstellungen. Fotografieren ohne Blitz ist uneingeschränkt gestattet. Eigene Aufnahmen sind nachfolgenden Kapiteln dieses Posts zugeordnet.


Lothar-Günther Buchheim (1918-2007) und die Vorgeschichte seines Museums der Phantasie
Porträtfoto Lothar-Günter Buchheim im Foyer Museum Buchheim Buchheim war nicht nur manischer Sammler, Fotograf, Autor und Verleger sowie während des 2. Weltkriegs Kriegsberichtserstatter als U-Boot-Fahrer im Rang eines Oberleutnants, sondern in jungen Jahren ein talentierter expressionistischer Maler, der jedoch nicht die von ihm erhoffte Anerkennung fand. Ob diese Enttäuschung ursächlich verantwortlich ist für eine Buchheim nachgesagte schwierige Persönlichkeit, bleibt Spekulation.(2)
In der Zeit des Nationalsozialismus galt expressionistische Kunst als entartet und fand in frühen Nachkriegsjahren nur geringe Wertschätzung. Buchheim erwarb zahlreiche expressionistische Gemälde zu geringen Preisen und baute eine international bedeutende hochkarätige Sammlung mit mehr als 500 Werken auf. Auf der Suche nach einem festen Ausstellungsort für diese und seine weiteren Sammlungen machten sich München, Chemnitz, Weimar und Berlin Hoffnung. Alle Verhandlungen endeten im Streit. Mit dem Lehmbruck-Museum in Duisburg schien endlich der passende Ort gefunden zu sein. Die Stadt finanzierte einen 11 Millionen teuren Anbau des Museums, vermittelte Buchheim einen Ehrendoktor und versuchte Buchheim mit allen einer Lokalpolitik verfügbaren Mitteln bei Laune zu halten, was ihr jedoch nicht gelang. Buchheim zog auch in Duisburg seine Zusagen zurück. An seinem Wohnsitz Feldafing machte Buchheim einen geeigneten Ort aus, aber dort stimmten die Bürger des Ortes erfolgreich gegen ein Museum Buchheim. Dank Vermittlung des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber konnte schließlich in Buchheims Nachbarschaft in Bernried das Buchheim-Museum gebaut und im Mai 2001 eröffnet werden.(3)


Umgebung, Architektur und Auftritt Museum Buchheim - Fotogalerien: Umgebung und Architektur - Foyer
Bierbrezel-Bomber Alcoport von WON ABC am Museum Buchheim Vom höher liegenden Parkplatz führt der Weg durch eine weitläufige Parkanlage zum Buchheim-Museum am Starnberger See. Anti-museale Straßenkunst soll dem Museum Leben einhauchen. Auf der Wiese vor dem Museum ist ein in der Sowjetunion entwickelter und in Polen produzierter Militärhubschrauber vom Typ Mil Mi 2T gelandet. Münchener Streetart-Künstler verwandelten den Hubschrauber unter dem Motto 'From War to Peace' in ein Kunstwerk. Vor dem Museum parken 2 Fahrzeuge, der von WON ABC geschminkte 'Bierbrezel-Bomber Alcoport' sowie Buchheims ehemaliger PKW, den Siegfried Ulmer als 'BMW-Krake' gestaltete. An einer Außenwand des Museums leuchtet das Graffiti 'Yellow Submarine' von WON ABC, bunt, grell, banal.

Museum Buchheim am Starnberger See, Architektur Günter Behnisch Das Museumgebäude mit 4.000 qm Fläche wurde vom renommierten Architekturbüro Behnisch, Behnisch & Partner konzipiert und ist der Kommandobrücke eines Schiffes nachempfunden. Vom Museum ragt ein Steg zum Starnberger See. Die Architektur führt kein narzistisches Eigenleben, sondern sie vermittelt strukturierend zwischen inneren und äußeren Räumen. Der zurückgenommen-bescheidene Auftritt der gelungenen Architektur beeindruckt.







Café Littwin - Imaginärer Gastronomiebetrieb und poetisches Ensemble, Angelika Littwin-PieperPapiermaché-Plastik, Karl-Heinz Richter Im Erdgeschoss des Museums vermitteln Objekte im Foyer erneut die Absicht, Grenzen zwischen Hochkultur und folkoristischer Trivialkultur aufzuheben. Zwischen Karussell-Figuren und Siegfried Ulmers Metallskulpturen stehen oder sitzen Karl-Heinz Richters dralle Papiermaché-Plastiken. Über ein Geländer blicken wir auf Angelika Littwin-Piepers imaginären Gastronomiebetrieb Café Littwin.

Colour Kamikaze Book Cover 1999, WON ABC, Foyer Museum BuchheimDominique Zinkpè, Taxi Luxembourg - Auf dem Weg zu den Sammlungen schreit uns laut und nichtssagend WON ABCs Graffiti Colourkamikaze an, ursprünglich Cover eines Buchs, das uns so wenig interessiert wie das grelle Graffiti. Gleich nebem dem Graffiti verkehrt Dominique Zinkpè Taxi Luxembourg, das eine Verbindung zwischen traditionellen Afrika-Objekten der Buchheim-Sammlung und der Afrika-Realität der Gegenwart herstellt.


Expressionisten-Sammlung - Fotogalerie
Expreesonistische Begegnungen im Museum Buchheim Expressionisten-Sammlung Buchheim In der Schatzkammer des Museums sind Werke aus Buchheims legendärer Expressionisten-Sammlung ausgestellt, ohne die es dieses Museum nicht gäbe. Die Liste der Künstler endet nicht bei Malern der Künstlergruppe Brücke, sie umfasst Vorgänger, Grenzgänger, Nachfolger und stellt auch Buchheims Gemälde im expressionistischen Stil aus.



Otto Müller, Zwei Mädchen im Schilf, 1926Ernst Ludwig Kirchner, Mädchenakt auf blühender Wiese, 1909 Darstellungen vermeintlich natürlicher Nacktheit bilden ein typisches Sujet expressionistischer Malerei. Nicht zu übersehen ist eine Vorliebe für Mädchenakte insbesondere bei den Brücke-Malern Heckel, Kirchner, Müller, Pechstein. Diese lösten vor einigen Jahren eine bis heute nicht abgeschlossene Diskussion über die Frage aus, ob die Maler sexuellen Missbrauch Minderjähriger begangen hätten oder gar pädophil seien und wie mit derartigen Sachverhalten umzugehen sei. Indizien sind offensichtlich, Beweise liegen jedoch nicht vor. Die Identität des Lieblingsmodell "Fränzi" konnte 1995 aufgedeckt werden (Lisa Franziska Fehrmann), aber das ehemalige Modell ist 1950 verstorben und kann darum nicht mehr zur Aufklärung beitragen.(5)



Ethnologische Sammlung - Fotogalerie
Ethnologische Sammlung Buchheim Afrikanische und ozeanische Masken und Skulpturen waren Inspirationsquellen für Künstler im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Masken und Skulpturen bedienten naive Sehnsucht nach Rückbesinnung auf 'Natürlichkeit' und regten Formensprachen von Malern des Expressionismus, Fauvismus, Kubismus, Dadaismus und Surrealismus an. Ein Verständnis vermeintlich exotischer Artefakte in ihrem ursprünglichen Kontext war nicht beabsichtigt. Wie die meisten Künstler ließ sich auch Buchheim lediglich von der Betrachtung außereuropäischer Objekte stimulieren, ohne nach kulturellen Bedingungen, Konzepten und Ideen der Entstehung dieser Objekte zu fragen.


Wunderkammern - Fotogalerien: Labor der Phantasie - Hözerne Menschen und Viecher - Schloss Zwergapfelkern
Labor der Phantasie, Museum BuchheimHerbert Scherreiks Schloss Zwergapfelkern Figuren von Hans Schmitt



Die Abteilung Labor der Phantasie gibt vor, kleine und große Besucher zur eigenen Kreativität anregen zu wollen, vor allem entfaltet das Kunstlabor jedoch Buchheims manische Sammelleidenschaft für Kuriositäten aller Art. Schenkungen wie Herbert Scherreiks - Schloss Zwergapfelkern oder Hans Schmitts Sammlung 'Hölzerne Menschen und Viecher' erweitern Buchheims 'Wunderkammern', zu denen u.a. seine in der Flower-Power-Zeit entstandene Poster-Serie PiPaPop zählt.(7) 
In ihrer Beliebigkeit erinnern diese Sammlungen an Kuriositätenkabinette und Wunderkammern des Spätmittelalters und der Renaissance, die Bewunderung und naives Staunen auslösen wollten und aus denen im 19. Jahrhundert thematisch fokussierende Museen mit wissenschaftlichem Anspruch hervorgingen.


Kurzbesuch in Benediktbeuern - Fotogalerie
Kloster Benediktbeuern Ein Aufenthalt in Bayern ist ohne Schweinsbraten mit 'Semmelnknödeln' unvollständig. Unsere Rückkfahrt vom Museumsbesuch nach Mittenwald legen wir über Benediktbeuern, um im Klosterbräustüberl des Klosters Benediktbeuern einen ordentlichen Schweinsbraten zu essen. Das 'Stüberl' ist in der Realität eine im ehemaligen Meierhof angesiedelte Klosterschänke (ohne eigenen Brauereibetrieb) mit 350 Innenplätzen und einem Biergarten. Für den Biergarten ist es heute zu nass und zu kalt. Das 'Stüberl' ist für eine geschlossene Gesellschaft reserviert. Der Schweinsbraten fällt aus, aber wir haben einen weiteren Trumpf, das Café Lugauer im Dorfzentrum. Die Einrichtung des Cafés praktiziert seit Jahrzehnten den Stillstand von Zeit, was uns jedoch nicht stört, weil die Qualität der Produkte eine verlässliche Konstante bildet.




Anmerkungen
  1. Über die beiden Sonderausstellungen im Museum Buchheim (PDF-Flyer 2017) berichten separate Posts: 'Nolde. Die Grotesken' - 'Holmead. Krude Köpfe'
  2. Nachrufe zum Tod Lothar-Günther Buchheims:
    Die Welt: Zorn und Leidenschaft
    Süddeutsche Zeitung: Ein sensibler und kraftvoller Mensch mit großem Durchsetzungsvermögen
    Süddeutsche Zeitung: Wortgewaltiger Poltergeist mit diabolischer Geschäftspraxis
    Der Spiegel: Poltergeist mit Phantasie
  3. Medienberichte über Buchheims Museumspläne:
    Die Zeit über Buchheim und die Stadt Duisburg: Der Querulant und die Spießer
    Der Spiegel über Widerstand in Feldafing: Putz am See  
  4. Artikel von Achim Schnurrer: WON ABC (PDF)
  5. Artikel zur Pädophilie-Diskussion:
    Deutschlandfunk: Waren die Brücke-Maler "pädophil"?
    Die Welt: Wie pädophil war Ernst Ludwig Kirchner wirklich?
    Kunstmagazin art: "Das war Missbrauch!"
    Der Spiegel: Kirchners Lolitas
  6. Artikel zur Museumsgeschichte:
    Wikipedia: Museumsgeschichte
    Muesumsführer: Die Wunderkammer - eine Tradition zum Staunen
  7. Eigene Fotos waren wegen der Lichtverhältnisse nicht möglich.

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