Das Kölner Musikfestival Acht Brücken besteht seit 2011 als Nachfolgefestival der MusikTriennale Köln, die seit 1994 alle 3 Jahr stattfand und der wir etliche nachhaltig beeindruckende Erinnerungen an Konzerten zeitgenössischer avantgardistischer Musik verdanken. Dank Förderung der Stadt Köln, der Kölner Philharmonie, des WDR und weiterer Kulturstiftungen findet das Acht Brücken Festival an verschiedenen Kölner Spielstätten jährlich statt. In vergangenen Jahren waren wir im Zeitraum des Festivals auf Reisen. In diesem Jahr sind wir vor Ort und nutzen am 1. Mai den als Freihafen bezeichneten kostenfreien Festivaltag für den Besuch von zwei für traditionelle Hörgewohnheiten sperrigen, aber für erfahrungsoffene Besucher spannenden Konzerten.
Helmut Lachenmann: GOT LOST in der Philharmonie
Das Programm beschreibt das Konzert GOT LOST als Musik für hohen Sopran und Klavier mit Texten von Friedrich Nietzsche und Fernando Pessoa. Sopran singt Yuko Kakuta. Am Flügel spielt Yukiko Suwara, Ehefrau des Komponisten dieses Werkes. Der 1935 geborene Helmut Lachenmann gilt als einer bedeutendsten Komponist der Gegenwart und übt mit seinem Verständnis moderner Musik und seiner Methode des Komponierens großen Einfluss auf eine ganze Generation von Komponisten aus. Lachenmanns bekanntestes Werk und größter Erfolg ist das 1997 uraufgeführte opernartige Bühnenwerk Das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Lachenmann ist ein Schüler des sozial und politisch engagierten italinischen Komponisten Lugi Nono und kompositionsmethodisch vom Komponisten Karheinz Stokhausen inspiriert. Das Konzert enttäuscht Erwartungen an emotionalen Bädern im Klangrausch oder an Melodien zum Mitsummen, sondern richtet sich an den Intellekt.
Bei frühlingshaftem Wetter treffen wir am Maifeiertag in der Innenstadt auf viel Publikum. Die Kölner Philharmonie ist jedoch mit ca. 150 Gästen trotz freiem Eintritt erwartungsgemäß nur schwach besucht. Aus Erfahrung wissen wir, dass avantgardistische Musik selbst in einer Millionenstadt wie Köln trotz zahlreicher Bildungsbürger wenig Freunde hat. Trotzdem sind wir immer wieder enttäuscht und auch bedrückt, auf wie wenig Liebe und Verständnis ernsthafte Kunst trifft, während als 'Kunst' bezeichneter Müll selbst bei hohen Preisen Publikum nicht abschreckt, sondern anzieht. Dass das Konzert nahezu ausschließlich Publikum im Seniorienalter interessiert, macht die Sache nicht besser. Möglicherweise verstört der kryptische Text der Ankündigung des Programmheftes ein jüngeres Publikum. Zitat:
"Dass man den Titel seines knapp halbstündigen Sing-Stücks mit gottlos assoziiert, hat Helmut Lachenmann, Spross einer Pfarrersfamilie, selbst angeregt. Die Suche nach einer letzten, alles begründenden und transzendierenden Wahrheit bleibt hier ohne Ergebnis. Allzu heterogen ist schon das vertonte Textmaterial. Ein Vierzeiler aus Friedrich Nietzsches »Fröhliche Wissenschaft«, ein Nonsens-Gedicht von Fernando Pessoa und die Suchanzeige nach einem verlorenen Wäschekorb, wo ist da die Verbindung? Ob philosophisch, poetisch oder beiläufig, Lachenmann unterwirft die Sprache einer Tortur von Phrasierungstechniken, schickt sie durch einen schroffen Parcours von Intervallen, Klangfarben und dynamischen Kontrasten, bis der Wortsinn – ganz spielerisch – auf der Strecke bleibt. Der Prozess des Hörens wird zum Thema, Sprache zur Musik."
Besucher des Konzerts, denen es gelingt, sich von eingeübten traditionellen Hörgewohnheiten zu lösen, begleiten einen musikalischen Prozess, der für Laien, wie wir es sind, nur schwer nachvollziehbar ist. Während wir der Pianistin akustisch und gedanklich einigermaßen folgen können,
dekonstruiert die Sängerin das vertonte Textmaterial. Entsprechend der Programmatik des Stücks bleiben Texte für Hörer weitgehend unverständlich. Yuko Kakuta zerfetzt die Texte stimmlich geradezu und mischt Silben mit
sinnfreien Lautmalereien und Geräuschen. Yukiko Suwara spielt dazu am Flügel Notenfolgen vom Blatt, die trotzdem wie freie Improvisation mit Überraschungseffeken wirken und Struktur durch Intervalle sowie an- und abschwellende Dynamik erhalten.
Fremdheit und Neuartigkeit des Konzerts schenken spannende Erfahrungen, die zur Beschäftigung mit dem Gehörten anregen. Den Verlust von Sinn beklagen Menschen gewöhnlich mit Mitteln von Sprache und formulieren in Sprache Begründungen, weshalb eine ergebnislose Wahrheitssuche semantische Deutungen zur Sinnlosigkeit macht. Dass Mittel von Musik diese Aussage ebenfalls kommunizieren kann, ist für uns eine neue Erfahrung, die bewusst macht, dass Musik nicht nur aus Klängen und Emotionen besteht, sondern eine Welt repäsentiert, in der Informationen auf anderen Trägern ausgetauscht werden.
Das Timing des Konzerts von knapp 30 Minuten empfinden wir als perfekt gewählt. Als Zuhörer hatten wir zu Beginn des Konzerts gewisse Anlaufprobleme und haben durchaus Zeit benötigt, bis wir uns vorbehaltlos auf die Darbietung einlassen konnten. Da das Konzert keine Spannungskurve hat, muss es zum Ende kommen, ehe individuelle Aufmerksamkeit und Aufnahmefähigkeit einbrechen. Das Ende des Konzerts kündigen Wiederholungen von Sequenzen aus dem Beginn des Konzerts an, allerdings mit dem Unterschied, dass wir jetzt diese Sequenzen mental einordnen können und als schlüssig empfinden.
Dass Kunst schwere Arbeit sein kann, demonstrieren die beiden exzellenten Künstlerinnen. Ein begeistertes Publikum belohnt am Ende des Konzerts die Künstlerinnen für ihre Leistungen mit Standing Ovation. An dieses Konzert werden wir uns noch lange erinnern.
OHNE GARANTIE, Uraufführung eines Kompositionsauftrags von ACHT BRÜCKEN im WDR
Von der Philharmonie eilen wir auf kürzestem Weg zum WDR Funkhaus am Wallrafplatz, wo um 12:00 Uhr im großen Sendesaal das nächste Konzert OHNE GARANTIE beginnt. Der Konzertraum hat 650 Besucherplätze, von denen die meisten bereits besetzt sind. Bis zum Beginn sind auch die restlichen Plätze belegt. Einige Zuhörer müssen sogar mit Stehplätzen im Gang Vorlieb nehmen.
Die Auftragskomposition OHNE GARANTIE mit dem Untertitel Music for a future, without guarantees wurde von Max Andrzejewski und Zola Mennenöh realisiert. (Die Trennung der beiden Aussagen des Untertitels mit einem Komma ist diskutierbar.) Den musikalischen Teil für eine Besetzung mit 5 Instrumenten und eine Stimme verantwortet der Berliner Komponist und Schlagzeuger Max Andrzejewski, der in mehreren Projekten engagiert ist, die über alle Genres hinweg Elemente von Jazz, Rock, Pop, Punk integrieren. Den Text des Stückes verantwortet die Jazzsängerin Zola Mennenöh, die mit Jazzgesang ebenfalls in mehreren Projekten engagiert ist und sich mit einer eigenen Webseite vorstellt: Zola Mennenöh.
Im Unterschied zum pessimistisch gestimmten Lachenmann-Konzert lässt dieses Konzert Raum für Optimismus. Zitat der Beschreibung im Programmheft:
"Wenn schon ausdrücklich ohne Garantie, so bleibt uns doch immerhin noch eine Option auf die Zukunft. Den ideellen Raum dafür öffnen der Berliner Komponist und Schlagzeug-Improvisator Max Andrzejewski in einem gemeinsamen Projekt mit der zwischen Berlin und Kopenhagen pendelnden Vokalistin, Komponistin und Flötistin Zola Mennenöh. In ihrer filigranen, feinnervigen und klangsinnlichen Poetik collagierte Mennenöh einen Text aus Beckett-Fragmenten, selbstverfasster Lyrik und Interviewstimmen, u. a. inspiriert von Gedanken der schwedischen Künstlerin Lisa Nyberg. Die Musik dazu für eine Besetzung aus fünf Instrumentalisten und Stimme stammt von Andrzejewski. Grenzgänge und Grenzgesänge zwischen zeitgenössischer Klassik, Improvisation und Komposition im Zustand fortgesetzter Krisen, Angst und Unsicherheit. Die Zukunft mag vage bleiben, aber wenigstens scheint gute Musik weiterhin garantiert."
Das kammermusikalische Ensemble setzt die Komposition hoch professionell um. Das Zentrum des Konzerts bildet jedoch die Sängerin Zola Mennenöh. Die Verständlichkeit der teilweise in englischer Sprache vorgetragenen Texte bleibt leider überwiegend fragmentarisch, aber da wir vorbereitet sind, finden wir Zusammenhänge. Im Vergleich zum Lachenmann-Konzert ist dieses Konzert konventioneller. Anwesendes Publikum zeigt sich deutlich begeisterter als wir es sind. Das Konzert ist zweifellos den Besuch wert, aber nach dem vorausgegangenen Konzert empfinden wir es als relativ brav. Reibungen und gedankliche Herausforderungen vermissen wir.
KonSequenzen im WDR
Im Anschluss des Konzerts wollen wir im benachbarten kleinen Sendesaal das Konzert KonSequenzen besuchen. Der kleine Sendessal ist für 160 Besucher ausgelegt. Zahlreiche Besucher des Konzerts im großen Sendesaal streben wie wir zum Anschlusskonzert. Im Pulk stehen wir weit vorne und haben gute Aussichten auf einen Platz. Dann erklärt eine Mitarbeiterin ohne Begründung, dass Jacken an der Garderobe abzugeben seien. An der Garderobe herrscht Gedränge. Wir werten als unsicher, ob wir mit diesem für uns unverständlichen Umweg noch Einlass erhalten und ergreifen Konsequenzen. Wir verzichten auf das Konzert und ziehen den Heimweg vor.
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