Als Emigranten des Ruhrgebiets unternehmen wir mit kunstsinnigen Freunden einen Ausflug nach Bottrop im Ruhrgebiet, um gemeinsam das Museum Quadrat im Stadtpark zu besuchen (Wikipedia: Quadrat Bottrop). Unseren Besuch motivieren Arbeiten des Malers Josef Albers. Vor Ort erkennen wir, dass auch weitere Abteilungen des Museums sehenswert sind. Der Besuch inspiriert zur Beschäftigung mit Themenfeldern der Ausstellung und rechtfertigt diesen Post, der nicht nur über Eindrücke unseres Besuchs berichtet, sondern vor allem Anni und Josef Albers weiträumiger in kulturellen Kontexten ihrer Zeit und von Kunst betrachtet. - Fotoserie
Inhaltsübersicht
1 Anmerkungen zu Bottrop und dem Ruhrgebiet
1.1 Anmerkungen zum Kunstmarkt
2 Museumskomplex und Architektur Quadrat Bottrop
2.1 Josef Albers im Museum Quadrat
2.1.1 Homage to the Square (Huldigung des Quadrats)
2.1.2 Ältere und neuere Arbeiten
2.2 Kunstsammlung im Erweiterungsbau Josef Albers Galerie
2.3 Museum für Ur- und Ortsgeschichteg
2.3.1 Eiszeithalle
2.3.2 Villa
3 Biografische Stationen und Notizen
3.1 Josef Albers als Mensch
3.2 Anmerkungen zum Bauhaus
3.3 Anmerkungen zu Walter Gropius
3.4 Anmerkungen zu Frauen am Bauhaus
3.5 Josef Albers Aufbruch als Künstler
3.6 Anni Albers (Fleischmann) Aufbruch als Künstler
3.7 Krisen am Bauhaus
3.8 Anni und Josef Albers in der Emigration
3.8.1 Black Mountain College
3.8.2 Yale Universität etc.
3.9 Bewertung der Arbeiten von Anni und Josef Albers in der Gegenwart
4 Anmerkungen zu Kunst, zum Kunstmarkt und zu Museen des Ruhrgebiets
5 Änderungshistorie des Posts
1 Anmerkungen zu Bottrop und dem Ruhrgebiet
Wie alle Städte des Ruhrgebiets ist auch Bottrop zum Nachteil der Stadt und hier lebender Menschen vom Strukturwandel der Region stark betroffen. Im Prognos Zukunftsatlas Deutschland 2022 liegt Bottrop im über 29 Indikatoren gebildeten Ranking von 400 Kreisen und Städten mit Rang 342 und Klasse 6 (von 8) im unteren Quartil und zählt wie Duisburg (365), Herne (382), Gelsenkirchen (393), Oberhausen (394) zu Gemeinden mit Zukunftsrisiken.
Die Metropole Ruhr unternimmt bemerkenswerte Anstrengungen der Entwicklung von Zukunftsfähigkeit und Selbstverständnissen bzw. Lebensgefühlen jenseits von Stahl, Kohle & Kumpel. Zu diesen Anstrengungen zählen Investitionen in Kunst, Kulturfestivals, Projekte der Gestaltung städtischer Räume und ihrer umgebenden Landschaften sowie historisches Bewusstsein fördernde Einrichtungen von Industriedenkmälern und eine über 400 km verbindenden Route Industriekultur. Das Portal ruhrkultur.jetzt bietet einen Überblick kultureller Aktivitäten der Region. Die Jahreskarte der RuhrKultur.Card ermöglicht zum kleinen Preis freien Eintritt in 39, teilweise hochkarätigen Museen sowie Ermäßigungen für 11 Bühnen und 5 Festivals. Im Museum Quadrat ist zwar der Eintritt frei, aber der Besuch von Sonderausstellungen ist kostenpflichtig, sodass wir die RuhrKultur.Card nutzen können.
Das Museum Quadrat ist ein Juwel des Ruhrgebiets, das viele Besucher verdienen würde, aber Besucher sind im Zeitraum unseres Aufenthalts an 2 Händen abzählbar. Ursachen selektiver Wahrnehmung und Wertschätzung sind soziologisch analysierbar, aber das ein komplexes anderes Thema, auf das Kapitel 4 in groben Zügen eingeht.
Wir bedauern, dass im Museum kein Restaurant oder Café betrieben wird.
In Anbetracht der kleinen Besucherzahl ist dieser Sachverhalt
nachvollziehbar, aber nicht alternativlos. Nach dem Museumsbesuch
versorgt uns das angenehme und deutlich lebhafter besuchte Café Kram in der Bottroper Innenstadt.
2 Museumskomplex und Architektur Quadrat Bottrop
Der Museumskomplex im Stadtpark Bottrop besteht aus 3 Museen. Begonnen
hat die Entwicklung mit einem in einer Villa des Stadtparks 1962
eingerichteten Heimatmuseum, das die historische Stadtentwicklung sowie Sammlungen zur Natur- und Siedlungsgeschichte der
Region dokumentiert und eine Mineraliensammlung zeigt. Um Schenkungen des 1888
in Bottrop geborenen Malers Josef Albers zeigen zu können, wurde 1976 ein Museumszentrum mit 3 Gebäuden auf quadratischem Grundriss angegliedert. Weiterere Schenkungen motivierten zur 1983 eröffneten Erweiterung auf ebenfalls quadratischem Grundriss. Die Gebäude plante der Bottroper Architekt und Stadtbaumeister Bernhard Küppers, der sich zur Bauhausarchitektur im Stil von Mies van der Rohe bekannte.
Im Oktober 2022 wurde eine als Josef Albers Galerie benannte großzügig dimensionierte 2.
Erweiterung des Museums mit 8 Räumen auf 700 qm Fläche für Sonderausstellungen in Betrieb genommen. Der über einen Steg erreichbare Erweiterungsbau fügt sich harmonisch in die Küppers-Architektur. An Außenseiten des Gebäudes öffnen monumentale Fenster Blicke in den Stadtpark. Das Erweiterungskonzept entwickelten die schweizer Architekten Annette Gigon und Mike Guyer. Die Architekturwelt feiert die Erweiterung positiv:
- Deutsche Bauzeitung: Museumserweiterung in Bottrop
- BauNetz: Kein Quadrat - Museumserweiterung von Gigon/Guyer und pbr Planungsbüro Rohling in Bottrop
- Bauwelt: Josef-Albers-Museum in Bottrop
Eingeweiht wurde der Erweiterungsbaus mit einer großen Albers-Ausstellung, in der alle Albers-Arbeiten des Bestands und zusätzlich einige Leihgaben gezeigt wurden (Quadrat: Josef Albers. Huldigung an das Quadrat). Medienberichte über die gelungene Architektur und die sehenswerte Ausstellung
inspirieren zum heute realisierten Besuch.
- Tagesspiegel: Der neue Anbau des Josef-Albers-Museums: Architektur für’s Quadrat
- WELT: Würfeln mit Farben
- FAZ: Dort im Reinen und im Rechten
2.1 Josef Albers im Museum Quadrat
Josef Albers wird vor allem mit seinen quadratischen Bildern bzw. seiner Serie Homage to the Square (Huldigungen an das Quadrat)
identifiziert. Diese Serie begann Albers jedoch erst 1950 im Alter von
62 Jahren und setzte sie bis zu seinem Tod 1978 fort. Erhalten sind mehr
als 2000 Arbeiten dieser Serie. Nach eigenen Angaben hat er eine noch
größere Anzahl Arbeiten dieser Serie vernichtet, weil er mit Ergebnissen
nicht zufrieden war. Über den Zeitraum von 28 Jahren bilden sich Cluster farblicher Prioritäten heraus und verändern sich sowohl Techniken als auch formale Prinzipien der Produktion, die jedoch nur Experten bei intensiver Beschäftigung mit dem Werk identifizieren und benennen können. Der britische Kunsthistoriker Charles Darwent ist ein solcher Experte (Charles Darwent: Josef Albers, Leben und Werk, Berlin 2021. Rezension WA: Charles Darwents Biografie über den Künstler und Lehrer Josef Albers: Der Mann, der Augen öffnete). Darwent legt mit der exzellenten Albers-Biographie zugleich eine umfassendes Werkanalyse vor, die Veränderungen, Metamorphosen und Widersprüchlichkeiten von Produktion und Persönlichkeit nachvollziehbar beschreibt.
Die Albers-Sammlung
des Museums Quadrat umfasst 120 Gemälde, Zeichnungen, Druckgrafiken,
Glasarbeiten, Fotomontagen, Resopalgravuren sowie kulturelle Artefakte
aus präkolumbianischer Zeit, die Anni und Josef Albers auf zahlreichen
Reisen nach Mittel- und Südamerika erworben haben. Objekte der Sammlung
machen unterschiedliche Perioden von Albers’ künstlerischer Entwicklung
nachvollziehbar. Besucher, die sich fragen, was Albers künstlerische
Arbeit getrieben hat, finden eher zusammenhanglos verstreute Hinweise zu
Einzelaspekten. Das Erschließen von Kontexten komplexer Sachverhalte erfordert prinzipiell eigene Aktivitäten.
Der Blog Arte Concreta des Korntaler Künstlers Lars Hauschild enhält etliche Einträge zu Josef Albers sowie zum Museum Quadrat und zum Bauhaus.
2.1.1 Homage to the Square (Huldigung des Quadrats)
In Beschreibung werden oft Bezüge zu Kunststilen oder Kompositionsprinzipien wie Konkrete Kunst (konstruktive Kunst), Farbfeldmalerei, Hard Edge (Harte Kante), Pop Art, Op-Art, Minimal Art, serielle Kunst hergestellt. Anregungen, Berührungen, Überschneidungen sind nicht zu übersehen, aber sie sind eher oberflächlicher Art. Josef Albers wollte keine seiner Arbeiten in eine der genannten Schubladen einordnen und erklärte:
Ich male keine Quadrate sondern Farbbeziehungen. Serielle Kunst lies Albers gelten: "In der visuellen Artikulation gibt es keine endgültige Lösung, daher arbeite ich in Serien." (Zitat: Darwent: Josef Albers, a.a.O., S. 419)
Die Aktivität des Malens empfand Josef Albers als eine missverständliche Bezeichnung. Er verstand sich selbst primär nicht als Maler, sondern als Pädagoge, dessen Objekte keine Wahrheiten, sondern Impulse vermitteln, die zu veränderten Wahrnehmungen befähigen und Betrachtern Augen öffnet. Aufgrund dieser Haltung wehrte sich Josef Albers gegen symbolische Deutungen und verweigerte inhaltliche Beschreibungen seiner Arbeiten.
Quadrate sind in der Malerei nicht besonders originell und in Malerei des 20. Jahrhunderts allgegenwärtig. Erfunden hat das Ur-Quadrat der modernen Malerei 1913/1915 Kasimir Malewitsch. Malewitschs Schwarzes Quadrat von 1915 gilt als Ikone der Moderne. Malewitsch betrachtete seine Quadrate als heilige Objekte und hängte Quadratbilder in Raumecken, in denen gewöhnlich Ikonen angebracht sind. Aufgrund ähnlicher Überzeugungen hatte Albers einen ähnlichen
Anspruch wie Malewitsch. Auf nur vordergründig ähnlicher Art und Weise
wollten beide nicht
weniger als die meditativen Ikonen des 20. Jahrhunderts kreieren (Art in
Words: Josef Albers, der Ikonenmaler des 20. Jahrhunderts?). Malewitsch wollte mit seinen Quadraten einen von Gegenstandsbezügen befreiten absoluten Schlusspunkt der Malerei setzen. Für Albers enthält das Quadrat keine symbolische Überschussbedeutung und setzt einen Anfang ohne Schlusspunkt.
Albers wählte das Quadrat als Grundelement, weil es sich im besonderen Maße zur Umsetzung seines Konzeptes eignet. Albers ging es um Erfahrungen des Sehens im Kopf des Betrachters bzw. um subjektive Wahrnehmungen
von
- Interaktionen und Interdependenzen zwischen Farben und Farbebenen,
- Form, Positionen und Anordnung von Elementen,
- Art des Farbauftrags,
- Einflüsse von
Lichtverhältnissen.
Zitat Nicole Büsing & Heiko Klaas, 07/08 2018 in Zeitkunst, Schule des Sehens:
Warum Quadrate? Josef Albers ging es nicht um die markante geometrische Form an sich, sondern vielmehr darum, ein möglichst neutrales Schema zu benutzen, das den Betrachterblick nicht durch inhaltliche Aufladung ablenken sollte. Das für ihn Wesentliche ist nämlich nicht die Darstellung eines Gegenstandes sondern die Interaktion zwischen Farbe, Linie, Fläche und Raum. In erster Linie soll so die Wahrnehmung des Betrachters geschult und herausgefordert werden. „I want to open eyes“. Mit diesem programmatischen Satz beantwortete der vor den Nationalsozialisten geflohene Josef Albers auch die Frage eines US-Einwanderungsbeamten nach seiner geplanten beruflichen Tätigkeit in Amerika. Indem er in der Serie „Homage to the Square“ unterschiedliche Farbflächen aufeinanderstoßen lässt, demonstriert Albers, wie diese sich gegenseitig verändern. Man könne, so hat sich Albers einmal geäußert, zum Beispiel „das langweiligste Grau zum Tanzen bringen“, wenn man es einem Schwarz gegenüberstelle.
Und noch etwas ist wichtig. Albers’ Bilder aus der Serie „Homage to the Square“ sind nicht mit dem Pinsel gemalt. Die von ihm verwendete Ölfarbe hat der Künstler in handwerklicher Manier stets gleichmäßig mit dem Spachtelmesser aufgetragen. Das Vermeiden einer individuellen künstlerischen Handschrift war ihm dabei äußerst wichtig. Dennoch strahlen seine Bilder keine sterile Perfektion aus. Ihre „Gemachtheit“ ist an den Übergangslinien durchaus ablesbar. Kurator Heinz Liesbrock dazu: „Es gibt eine angenehme Unregelmäßigkeit, wenn die mit freier Hand gestalteten Farbfelder aneinanderstoßen. Nicht lineare Abgrenzung, sondern organischer Übergang ist das Thema... Seine Farbflächen sprechen leise und pointiert – ihr Tonfall ist unaufdringlich und zurückhaltend.“
Für Albers waren Bilder dieser Serie keine
abgeschlossenen Antworten auf grundlegende Fragen, sondern Studien einer prinzipiell unendlichen Variation von 3 oder 4
Quadraten in konzentrischen Anordnungen mit variierenden Farbgebungen
und Positionierungen, die in festgelegten Proportionen miteinander interagieren und optische Täuschungen
von Tiefe, Höhe oder anderer Art erzeugen. Albers lagen vordergründige Effekte absolut fern. Ihm ging es um die Darstellung von Widersprüchlichkeit zwischen physikalischer Realität (empirischen Fakten) und Prozessen subjektiver sinnlicher Wahrnehmung (Anschauung und Phantasie).
Parallelen zu Mark Rothko drängen sich auf (womit nicht gesagt sein soll, dass die beiden Maler sich gegenseitig beeinflusst haben). Trotz der Unterschiede von Arbeitsweisen und Ergebnissen sind Haltungen der beiden Maler ähnlich. Beide zielten mit ihren Farbkompositionen auf eine intensive Betrachter-Bild-Beziehung:
- Rothko mischte Farben und ließ sie auf der Leinwand verschwimmen sowie sich zum Rand hin wolkig auflösen (Kunstlexikon: Maltechnik.Mark Rothko).
Von Rothko ist bekannt, dass er mit seinen als Multiforms bezeichneten Farbfeldbildern spirituelle religiöse Erfahrungen umsetzen und empfängliche Menschen emotional bewegen wollte (Der Standard: Stille in Momenten tiefster Emotion). Emotionen wollte Rothko ohne formale Elemente alleine mit scheinbar pulsierenden Farbeffekten wecken (Mark Rothko: Gemälde). - Albers nutzte unvermischte Farben mit harten Übergängen und erzielte Farbeffekte, indem er Farben in exakt festgelegten Proportionen von Quadraten und Trapezen interagieren ließ (Beispiele in artnet: Josef Albers).
Von formalen Aspekten erwartete Albers vertiefende Einsichten. Die Einfachheit der Komposition soll Subtilität vermitteln und in der Verknüpfung mit Komplexität der Darstellung ikonenhafte spirituelle Wirkungen der Erfahrung von Heiligkeit erzeugen. Auf zweidimensionaler Fläche erzeugte Illusionen dreidimensionaler Räumlichkeiten verweisen auf Tiefe, die sich unmittelbarer Anschauung entzieht und nur spirituell zu erfahren ist. Auch wenn Albers dem Quadrat selbst keine symbolische Überschussbedeutung beimisst, scheint er den ikonischen Gedanken von Malewitsch aufzugreifen. Wie weit es Albers gelingt, Einkehr und Erkenntnis anzustoßen, ist keine empirisch entscheidbare Frage. Antworten liegen im Auge bzw. Kopf des Betrachters.
Wie Rothko versprach sich Albers von der Sensibilität für Farbe einen neuen Ausgangspunkt für Empfindsamkeit gegenüber unbewältigten Erfahrungen der Gefühllosigkeit und Brutalität, die zwei Weltkriege, Nationalsozialismus und Holocaust hinterließen (Schirn: Farben Denken? Vom revolutionären Gehalt Josef Albers).
2.1.2 Ältere und neuere Arbeiten
Glasfenster des Gropius-Büros im Bauhaus Weimar (Replik) |
Strukturale Konstellation-Zwei Supraporten LWL-Museum Münster, CC 4.0 |
Nachdem sich Josef Albers 1920 am Bauhaus Weimar einschreiben konnte, beschäftige er sich vorerst nicht mehr mit Malerei, weil er Neues lernen und experimentieren wollte. Medien dieser Phase sind Fotografie und der Werkstoff Glas, an dem er Wirkungen von Farben und Lichtreflexen erprobt. 1922 wurde Albers Geselle der Glasmalerwerkstatt. In der Werkstatt fertigte er u.a. Fenster für das Gropius-Büro und verschiedene Bauhäuser sowie für das Grassimuseum in Leipzig und das Ulstein-Verlagshaus in Berlin. Sämtliche Glasarbeiten wurden im 2. Weltkrieg zerstört. Die Albers-Fenster des Grassimuseums wurden 2011 rekonstruiert (Bauhaus Kooperation: Fenster im GRASSI Museum Leipzig).
Josef Albers entwarf Gebrauchsgegenstände aus Holz und Glas. Im Bauhaus Dessau übernahm er 1928 die Möbelwerkstatt. Das Museum Quadrat zeigt von Josef Albers entworfene Gebrauchsmöbel. Von ihm entworfene Beistelltische werden noch immer produziert und vertrieben (Bauhaus Dessau: Satztische Josef Albers). Biograph Charles Darwent sieht den Satz Beistelltische mit ihren farbigen Glasplatten als Vorläufer der Homages (Darwent: Josef Albers, a.a.O., S. 38).
Erst am Black Mountain College (Kapitel 3.7.1) beschäftigt sich Josef Albers intensiv mit farbiger Malerei. 1950 findet er zum Quadrat, aber er experimentiert auch mit Farben, Formen und Anordnungen anderer grafischer Elemente. Zwischen 1950 und 1958 realisierte er die Serie „Strukturale Konstellation“, mit denen er Effekte gewollter Irritationen erzeugte. - Zitat NRW Skulptur: Strukturale Konstellation – Zwei Supraporten:
Die „strukturalen Konstellationen“ [...] sind geometrische Linien, die auf den ersten Blick als perspektivische Zeichnungen dreidimensionaler Körper erscheinen. Auf den zweiten Blick handelt es sich jedoch um ein Vexierspiel mit den Sehgewohnheiten des Betrachters, da die dargestellten Konstruktionen in der Realität unmöglich sind. Beide Supraporten werden zunächst als ineinander verschachtelte Quader wahrgenommen, jedoch die unwillkürlichen Versuche, ein Innen und Außen, ein Vorne und Hinten zu identifizieren, scheitern, so dass es immer wieder zu einem Kippen der Wahrnehmung kommt. Dieses entspricht der Intention des Künstlers, der zu einem bewussteren Sehen auffordert. In einem zweiten Schritt wird der Betrachter beide Elemente vergleichen, über die Unterschiede zwischen ihnen nachdenken und so seine Wahrnehmung gleichzeitig relativieren und schärfen.
Die ersten Entwürfe dieser Konstellationen ritzte Albers als Gravuren in farbig beschichtete Resopalplatten, von denen Exemplare im Museum ausgestellt sind. Im Kontext des neu errichteten LWL Museums Münster erhielt Josef Albers 1972 einen Auftrag zur Gestaltung der Nordfassade. Albers konzipierte Strukturale Konstellation (Foto rechts über dem Text des Kapitels). Da die stufige Wand über den Eingangstüren des Museums keine flächige Übertragung des Entwurfs möglich machte, waren Anpassungen erforderlich, die Albers als Supraporten bezeichnete (Münster Wiki: Strukturale Konstellationen - Zwei Supraporten).
1977 realisierte Josef Albers eine ähnliche Skulptur als Bauplastik für das Wrestling-Gebäude einer Versicherung in Sydney. Das Gebäude hatte Harry Seidler entworfen, ein ehemaliger Albers-Student am Black Mountain College (Darwent: Josef Albers,
a.a.O., S. 422).
2.2 Kunstsammlung im Erweiterungsbau Josef Albers Galerie
Die aktuelle Sonderausstellung zeigt im Zeitraum 30.04.-03.09.2023 auf der gesamten Ausstellungsfläche der im Oktober 2022 eröffneten Josef Albers Galerie jenseits der Arbeiten von Josef Albers eine Auswahl der Sammlung aus 45 Jahren Sammlungsgeschichte des Museums: Sonderausstellung Quadrat Sammlung
Die Präsentation der Werke versteht sich im Sinne von Josef Albers als eine Einladung zum vergleichenden Sehen. Der Parcours erzeugt bewusst Spannungen, die Entdeckungen ermöglichen, aber auch Bezieungen sichtbar machen.
2.3 Museum für Ur- und Ortsgeschichte
Das Museum für Ur- und Ortsgeschichte verteilt sich auf die 1976 mit dem Museumszentrum errichtete Eiszeithalle sowie auf die aus dem Foyer zu erreichende benachbarte ehemalige Villa, die 1903 errichtet und 1962 zum Museum umgewidmet wurde.
2.3.1 Eiszeithalle
Die Eiszeithalle präsentiert eine Sammlung von Fossilien des letzten Eiszeitalters (in Fachsprache als Kaltzeit bezeichnet), das je nach Definition vor ca. 34 Millionen Jahren oder vor ca. 2,7 Millionen Jahren begann und vor ca. 11.700 Jahren endete. Die meisten Exponate wurden in der Umgebung von Bottrop bei Bauarbeiten während der Industrialisierung gefunden, insbesondere im Emschertal. Funde aus eiszeitlichen Ablagerungen verweisen auf Neandertaler, die vor ca. 200.000 Jahren zeitweilig in der Region lagerten.
Glanzstücke der Ausstellung sind Skelette eines Mammutbullen, eines Wollhaarigen Nashorns, zweier Höhlenbären sowie Spuren von Löwen und anderen Paarhufern auf einer großen und in Europa einmaligen Fährtenplatte, auf die Bautrupps bei einer Erweiterung des Rhein-Herne-Kanals gestoßen sind. Dank großzügiger Unterstützung von Firmen, Organisationen und ehrenamtlichen Helfern konnten die Trittsiegel gesichert und als Fährtenplatte präpariert werden.
- Wissenschaftliche Beschreibung: Eiszeitliche Löwenfährten aus Bottrop-Welheim (PDF, 7 Seiten)
Die Ausstellung in der Villa zeigt im Sinne eines Naturkundemuseums die erd- und naturgeschichtliche Entwicklung der Region ab dem Karbon sowie im Sinne eines Heimatmuseums die kulturelle Entwicklung seit prä- und frühhistorischer Zeit bis zur Gegenwart. Die Ausstellung vermittelt, dass die Geschichte des Ortes Bottrop nicht auf Steinkohlebergbau reduziert werden kann. Nachweisbar sind Spuren und Relikte mittelalterlicher Geschichte und Einflüsse von weltlichen und kirchlichen Herrschaften. Bevor Kohle und Bergbau sich zum wichtigsten Wirtschaftsfaktor entwickelten, erlaubte der Abbau von Sand eines urzeitlichen Meeres den Betrieb einer Ziegelbrennerei.
Inbesondere vermittelt die Ausstellung jedoch, wie der Rohstoff Kohle entstanden ist, wie er genutzt wurde und was diese Nutzung in der Stadt Bottrop bewirkt hat (Quadrat: Bottrop - auf Kohle gebaut). Ausgestellte Mineralien und Fossilien wurden im Steinkohlebergbau geborgen und stammen aus dem Karbon,
in dem sich vor ca. 360 bis 300 Millionen Jahren Flora ablagerte, aus
der Steinkohle des Ruhrgebietes besteht, oder aus vor 84 bis 72 Millionen Jahren im Campanium abgelagerten Mergelschichten der Bottrop-Formation.
- Landschaftsverband Westfalen Lippe, Geologie und Paläontologie in Westfalen, Heft 67: Ammoniten der Bottrop-Formation, Campanium, westliches Münsterland (PDF, 80 Seiten)
3 Biografische Stationen und Notizen
Die wichtigsten biografischen Daten zu Josef Albers und seiner Ehefrau, der Textkünstlerin Anni Albers, beschreiben Wikipedia-Artikel und müssen hier nicht wiederholt werden. Anmerkungen dieses Posts versuchen mit Verweisen auf bedeutende Stationen der Biografie der beiden ein Bild zu zeichnen, das ein Verständnis ihrer Arbeiten möglich macht. Maßgeblichen Einfluss auf Entwicklungen beider Persönlichkeiten übte das 1919 in Weimar von Walter Gropius (1883-1963) gegründete Bauhaus aus. Einen tiefen Einblick in Entwicklungen des Bauhauses und die Leben von Anni und Josef Albers bietet die exzellente Albers-Biographie des britischen Kunsthistorikers Charles Darwent.
3.1 Josef Albers als Mensch
Josef
Albers war eine schwierige und widersprüchliche Persönlichkeit mit eingeschränkter sozialer Kompetenz und Tendenzen zu zwanghafter Pedanterie. Als verschlossener Mensch äußerte er sich jedoch nicht schriftlich über persönliche
weltanschauliche Überzeugungen. Er führte kein Tagebuch und interpretierte seine Arbeiten nicht. Seine Anschauungen können nur aus seinem Verhalten, archivierter Korrespondenz und Aussagen seines Umfeldes erschlossen werden. Es darf aber
vermutet werden, dass in seinen Arbeiten persönliche Anschauungen
durchscheinen, die von drei interdependenten Prozessen beeinflusst
sind:
1. Soziales, ökonomisches und politisches Zeitgeschehen,
2. Bedingungen des Menschseins in einer ungeordneten und orientierungslosen Welt,
3. persönliche Erfahrungen seiner Sozialisation.
In
Anbetracht von sozialen, ökonomischen und politischen Entwicklungen des
20.
Jahrhunderts stellt sich die Welt chaotisch dar. Der Verlust von Ordnung
der Welt wird als Orientierungslosigkeit, Sinnlosigkeit, Beliebigkeit
empfunden, auf die Kunst mit der Suche nach Antworten reagiert. Auf
Erfahrungen von 2 Weltkriegen, Nationalsozialismus, Holocaust reagieren
sämtliche relevante Kunstrichtungen in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts, aber auf unterschiedliche Arten und Weisen, die
resignativ, politisch, meditativ, spirituell ausfallen. Josef Albers
zählt am ehesten zur Gruppe von Künstlern, die auf prinzipielle Fragen
der Zeit eigene Antworten in meditativ-spiritueller Innerlichkeit und
Empfindsamkeit suchen.
Als
Künstler hat Josef Albers mehrere Kirchenfenster gestaltet, was noch
nichts über persönliche religiöse Einstellungen besagt, aber zum Kontext
seiner Biografie passt. Josef Albers wurde in einem katholischen Umfeld
sozialisiert. Bottrop war lange Zeit eine Hochburg des Katholizismus.
Der Ort und umliegende Gemeinden gehörten zum Erzbistum Köln. Mit der
Industrialisierung des Ruhrgebiets verstärkte und radikalisierte der
Zuzug von Polen den Katholizismus. 1910 bildeten polnischsprachige
katholische 'Ruhrpolen' mit einem Anteil von 75 % die Mehrheit der
Einwohner Bottrops.
Vor seiner Künstlerkarriere wurde Josef Albers in
reformpädagogisch ausgerichteten katholischen Lehrerseminaren zum
Volksschullehrer ausgebildet. Jeder Tag begann mit einer Morgenmesse. In
der Zeit als Volksschullehrer (1908-1913) gewann Josef Albers
sein Leben prägende pädagogische Einsichten. Lernen durch Erfahrung war für ihn wichtiger als Bücherwissen. Ziele der Schulerziehung sollte die Befähigung zur Selbsterziehung sein, die sittlichen Zwecken zu dienen habe (Darwent: Josef Albers,
a.a.O., S. 93).
Aus Sicht der Gegenwart fiel im Leben von Josef Albers Vieles widersprüchlich aus, so auch Verknüpfungen von fachlicher Kompetenz mit angemessenem Verhalten gegenüber Schülern. In Albers pädagogischen Vorstellungen schimmert Pestalozzis Anschauungs- und Reformpädagogik durch, aber auch preußische Erziehung. (Ähnlichen Nachriegs-Schulerfahrungen war der Autor dieses Posts ausgesetzt.) Von Schülern erwartete Josef Albers Gehorsam, Disziplin, Tugendhaftigkeit. Persönlichkeiten von Schülern betrachtete er als Mangelzustände, die keinen Respekt erfordern. Erziehung bedeutet für Albers Formung von Rohmaterial, notfalls auch gegen Widerstand. Er kehrte gerne den Lehrmeister heraus. Wenn ihm Schülerarbeiten
missfielen, konnte seine Kritik vernichtend brutal ausfallen. Schüler litten unter ihm, aber sie liebten ihn auch, weil sie erkannten, wie stark er sich für ihre Entwicklung engagierte und wie nachhaltig sie von ihm profitierten.
Josef
Albers konnte sich aber auch charmant und liebenswürdig zeigen, vor allem gegenüber
Frauen, wenn er von ihnen etwas wollte. Gegenüber Männern verhielt er
sich gewöhnlich undiplomatisch-direkt, oft auch ablehnend, schroff
oder wütend. Dagegen war Korrespondenz mit katholischen Theologen prinzipiell höflich, freundlich, verbindlich formuliert. Männfreundschaften bilden jedoch über den gesamten Lebenszeitraum seltene Ausnahmen.
Aktmalerei lehnte Albers als pornografisch ab. Andererseits begrabschte
er Studentinnen an Brüsten, kniff ihnen in den Hintern, küsste sie
auf den Mund und fotografierte seine Geliebten gerne nackt (Darwent, a.a.O., S. 378 f.). Für die Zeit in Yale sind mehrere Liebesaffairen bekannt, teilweise mit Ehefrauen seiner wenigen Freunde. Für die Weimar Zeit bestehen Hinweise auf Liebesaffairen.
Das Sakrament der Ehe war Josef Albers offensichtlich nicht heilig, obwohl er über die Zeit seines Lebens als Katholik mit regelmäßigen Kirchgängen beschrieben wird. In Yale soll Albers zeitweilig täglich zur Messe gegangen sein (Darwent, a.a.O., S. 378 f.).
Ein Grund mag sein, dass er viele Sünden zu beichten hatte. Seine Bestattung wünschte sich Josef Albers nach römisch-katholischem Ritus (Darwent: Josef Albers, a.a.O., S. 447 f.).
Der Autor dieses Posts vermutet, dass Albers als religiöser Mensch mit
seinen Arbeiten Emotionen der Sakralität anstoßen wollte (ähnlich wie Mark Rothko).
3.2 Anmerkungen zum Bauhaus
Idee und Bezeichnung 'Bauhaus' gehen auf mittelalterliche Bauhütten des gotischen Kathedralenbaus zurück. Das Bauhaus hatte das Ziel, Architektur, Handwerk und Kunst gemäß mittelalterlicher Praxis von Bauhütten als gleichwertig zusammenzuführen. Der Bauhaus-Slogan 'Zurück in die Zukunft!' verdeutlicht die zugleich fortschrittliche und rückwärtsgewandte Gründungsidee. Da ein praktikables strategisches Fundament erst noch experimentell zu entwickeln war, bestanden große Freiheiten. Wirtschaftliche Probleme und Streit über Ausrichtungen gehörten zum Tagesgeschäft.
In der Phase der Selbstfindung nahm der radikale universalistische niederländische Maler, Architekt, Schriftsteller, Kunsttheoretiker Theo van Doesburg (Gründungsmitglied der avantgardistischen Künstlervereingung De Stijl) prägenden Einfluss auf die Entwicklung des Bauhauses (Arte Concreta: Theo van Doesburg - der Allrounder). Gropius verhinderte die Berufung van Doesburgs als Meister (Seminararbeit Fakultät Architektur TU Dresden: De Stijl. Neue Wege in der Kunst und Architektur. Auswirkungen. Bauhaus). Van Doesburgs Programmatik Konkreter Kunst forderte Reduktion auf das Wesentliche mit schnörkelfreien geometrischen Formen und nutzte in Spannungsverhältnissen stehende selbstreferentielle Farben ohne Symbolik (Arte Concreta: Farbe ist konkret! Radikaler Farbpurismus und neue Ästhetik). Josef Albers hat van Doesburgs Programmatik mit seinen Homages weiter abstrahiert bzw. radikalisiert.
Da Konflikte nicht nur Reibung, sondern auch Dynamik erzeugen, verursachte das Bauhaus im relativ kurzen Zeitraum von 1919 bis 1933 des Bestehens mit innovativen Ideen und Konzepten einen Modernitätsschub und Neuausrichtungen, die sich bei der Architektur von Gebäuden und Fertigung von Gebrauchsgegenständen dank neuartiger ästhetischer Prinzipien des Designs und Verfahren der Produktion nachhaltig wirksam ausprägten.
3.3 Anmerkungen zu Walter Gropius
In einer Zeit politischer und sozialer Umbrüche vertrat Gropius eine
politisch fortschrittliche Programmatik, die sich vom konservativem
Historismus löste und propagierte eine sozialreformerische Sicht auf
einen neuen Menschen und ein soziales Leben, in dem eine vermeintlich
verloren gegangene Einheit von Lebenszusammenhängen wiederhergestellt
wird (Deutschlandfunk: 100 Jahre Bauhaus: Einheit von Handwerk und Kunst). In Gropius' Programmatik flossen zahlreiche von Henry van de Velde (1863-1957) vorgedachte Ideen und angestoßene Entwicklungen ein. Entgegen dem Zeitgeist trat Gropius für die Gleichberechtigung von
Frauen ein und öffnete die Ausbildungsstätte für Frauen, die zu dieser
Zeit gewöhnlich keinen Zugang zu Ausbildungen mit höherer Qualifikation
hatten. Wahlrecht für Frauen gab es erst seit 1919.
Walter Gropius heiratete nach dem Tod von Gustav Mahler 1915 dessen Ehefrau Alma, die als Komponistin unterdrückt wurde und sich als Sammlerin von Künstler-Männern anrüchig machte (SWR: Alma und Gropius: Die unerhörte Leichtigkeit der Liebe). Gropius hatte mit Alma seit 1910 eine Beziehung. Die Ehe wurde 1920 geschieden. (Kurzporträt des Deutschlandfunks: Alma Mahler-Werfel: Eine Femme fatal des 20. Jahrhunderts)
3.4 Anmerkungen zu Frauen am Bauhaus
Kulturell waren Künstlerkarrieren für Frauen nicht vorgesehen, besagt
ein Beitrag des Deutschlandfunks über Anni Albers. Aufgeschlossenen
jungen Frauen des Großbürgertums, die sich von konservativen
Rollenmustern lösen wollten, eröffnete das Bauhaus jedoch Chancen eines Ausbruchs aus konservativ-bürgerlichen Rollenmustern. Ihre Haltung demonstrierten Frauen am Bauhaus symbolisch mit Kurzhaarfrisuren und Kleidungen ohne Korsette.
Das
Verhältnis zwischen den Geschlechtern war am Bauhaus entspannt.
Studenten
galten als lockere Vögel und Studentinnen nutzen für diese Zeit
ungewöhnliche Freiheiten. Gemeinsam feierte man wilde Feste und ging
wechselnde Beziehungen ein. Beide Seiten genossen libertäre
Freizügigkeiten. Nacktheit war kein Tabu. Kulturell verankerte
patriarchalische Rollenmuster wurden jedoch von beiden Seiten nicht in
Frage gestellt.
Nach
anfänglicher Parität waren Frauen am Bauhaus bald in der Überzahl, was
wiederum Männern am Bauhaus nicht gefiel, weil die
Rollenverteilung nicht zu ihrem konservativ-konventionellen Frauenbild
passte. Vom Bauhaus-Meister Oskar Schlemmer ist das Zitat überliefert: „Wo Wolle ist, ist auch ein Weib, das webt, und sei es nur zum Zeitvertreib“ (Bauhaus Kooperation: Meister und Weberinnen).
Der
Meisterrat löste das 'Frauenproblem' am Bauhaus, indem er behauptete,
dass Frauen Schwierigkeiten mit räumlichem Sehen hätten, nicht für
schwere Arbeit geeignet seien, besser in der Fläche arbeiten könnten und
daher die Einrichtung einer Frauenklasse in der Weberei ihren Fähigkeiten
besser gerecht würde als Arbeiten am Bau oder in der Töpferei.
Da Weberei als Kunstgewerbe galt, das in der hierarchischen Wertung
unter Kunst und Handwerk eingeordnet wurde, war männlicher
Domänenanspruch wiederhergestellt.
Trotz Abwertung als Bauhausmädels
machten Frauen die Weberei zur wirtschaftlich erfolgreichsten Werkstatt
des Bauhauses. Die Werkstatt wurde aber immer an letzter Stelle genannt.
Herausragende Persönlichkeiten der Werkstatt waren u.a. Gunta Stölzl (1897-1983) (MDR: Die einzige Meisterin am Bauhaus, Gunta Stölzl) und Anni Albers (Fleischmann)
(1899-1994). In der Gegenwart wird die Bedeutung der Textilkunst des
Bauhauses mit Ausstellungen und musealer Präsentation gewürdigt (EMCO: Die Weberei am Bauhaus).
3.5 Josef Albers Aufbruch als Künstler
Josef Albers ist in kleinbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen. Als Künstler verstand er sich als Autodidakt und betonte stets, dass er von
seinem Vater und von Adam abstamme und von sonst niemand. Sein Vater
macht ihn als Malermeister schon früh mit Farben vertraut. Josef Albers wird als konservativ, bekennender Katholik, verschlossen, introvertiert, undiplomatisch beschrieben. Pedantisch
hob er nicht nur jeden Zettel auf, er archivierte sie auch. Auf
Rückseiten seiner Bilder notierte er alle relevanten Details der
Produktion.
1920 begann Josef Albers eine Ausbildung am Bauhaus in Weimar. Gropius schickte Albers in den von Johannes Itten geleiteten Vorkurs, was Albers zunächst nicht einsehen wollte, weil er sich mit Farben schließlich auskannte (Bauhaus Kooperation: Vorkurs). Itten entwickelte eine eigene Farbenlehre und gilt als Begründer der Farbtypenlehre. Ungeachtet subjektiver Auffassungen kann sich niemand Einflüssen vollständig entziehen. Wahrscheinlich hat Albers von Itten profitiert, der u.a. auch Wand- und Glasmalerei lehrte.
Itten vertrat offensiv spirituell-esoterische Ansichten und Lebensweisen einer zoroastrischen Sekte und war daher im Bauhaus umstritten. Nach Streit mit Gropius verließ Itten 1923 das Bauhaus. Gropius setzte Albers zusammen mit dem Konstruktivisten László Moholy-Nagy als Lehrer des Vorkurses ein, den Albers nach Moholy-Nagys Abgang alleine leitete. Albers hasste den Kollegen und ebenso den damals angesagten Expressionismus. Kandinsky und Klee, die in Meisterkursen unterrichteten, ging er aus dem Weg. Am Bauhaus befasste sich Albers mit Glasmalerei, Design von Gebrauchsgegenständen. 1928 übernahm er zusätzlich die Möbelwerkstatt.
3.6 Anni Albers (Fleischmann) Aufbruch als Künstlerin
Anni Albers (geborene Anneliese Fleischmann) wurde 1899 in einer großbürgerlichen Berliner Familie geboren. Der Vater war Möbelfabrikant, die Mutter stammt aus der deutsch-jüdischen Verlegerfamilie Ullstein. Sten Nadolny charakterisiert Anni in seinem Ullsteinroman als zickige Schönheit und revoltierende Bohèmienne, die sich gegen alle Konventionen auflehnte und eine Karriere als Künstlerin in den Kopf gesetzt hat. (Sten Nadolny, Ullsteinroman, München 2003, Seite 351f.)
Anni wollte eigentlich Malerin
werden und hielt Weben für weiblich: "Wenn ein Werk
aus Fäden gemacht ist, hält man es für Handwerk; wenn es auf Papier
ist, gilt es als Kunst", stellte Anni Albers fest (Vogue: 10 Fakten über Anni Albers – die deutsche Bauhaus-Künstlerin, die bis heute die Mode beeinflusst).
1922 nahm Anni ein Studium am Bauhaus in Weimar auf. Maßgeblichen Einfluss auf Annis Kunstauffassung übte Paul Klee als Bauhausmeister der Malklasse aus. Anni wurde jedoch in die Weberei abgeschoben, wo sie zunächst Schülerin von Gunta Stölzl war und später am Bauhaus Dessau Guntas Nachfolgerin als Leiterin der Weberei wurde. Am Bauhaus Weimar lernten sich Anni und Josef kennen und lieben. 1925 heirateten die beiden (Bauhaus Kooperation: Anni Albers), obwohl Josef Albers ein 'Schürzenjäger' war, was Anni wusste. Auch während der Ehe werden ihm Affären nachgesagt (Darwent, a.a.O., S. 249 ff., S. 321 ff.). Studentinnen pflegte er an Brüsten zu begrapschen und zu kneifen (Darwent, a.a.O., S. 325 f.) Ob Anni ähnliche Freiheiten in Anspruch nahm ist unsicher, darf aber vermutet werden.
Als das Bauhaus 1925 nach Dessau umzog, gingen beide mit und übernahmen am Bauhaus Dessau zunehmend leitende Positionen. 1930 wurde Josef Albers zum Professor ernannt. Erst jetzt befand er sich auf Augenhöhe mit den anderen Meistern und durfte mit Anni das seit Moholy-Nagys Weggang 2 Jahre leerstehende Meisterhaus Nr. 2 übernehmen (Darwent, Josef Albers, a.a.O., S. 245f.).
3.7 Krisen am Bauhaus
Vor dem Hintergrund der politischen Situation der Weimarer Zeit hemmte Streit zwischen den Meistern über die Ausrichtung des Bauhauses den Betrieb. Die Fronten markierten Walter Gropius und der von ihm 1927 an das Bauhaus berufene schweizer Meisterarchitekt Hannes Meyer. Querelen zwischen Gropius und Meyer beschreibt ein Beitrag der vom Kunst- und Kulturhistoriker Roland Günter betriebenen Webseite Werkbund-Initiative. Der Beitrag Ära Hannes Meyer ist ein Auszug des Buchs Bauhaus als Kultur.
Die Wirtschaftlichkeit des Bauhauses war ein Dauerproblem. Ab 1927 ging zusätzlich die sicherlich schwierige Balance zwischen Kunst und Wissenschaft verloren. Gropius verließ 1928 das Bauhaus und arbeitete zunächst in Berlin als selbständiger Architekt. Meyer bezweifelt das Konzept des von Josef Albers verantworteten Vorkurses und will den Kurs auflösen. Mit der Unterstützung weiterer Meister kann Albers seinen Vorkurs erhalten.
1930 wurde Meyer wegen "kommunistischer Machenschaften" fristlos entlassen. Gemäß Recherchen des Biografen Charles Darwent sollen sich Josef Albers und Kandinsky an
Meyers Entlassung beteiligt haben, um eigene Fachbereich zu
schützen (Darwent: Josef Albers, a.a.O., S. 263ff.). Meyer emigrierte in die Sowjetunion, wo er mehrere Jahre in Moskau an der Hochschule für Architektur lehrte, bis er bei Stalin in Ungnade fiel und zurück in die Schweiz ging (Bauhaus Kooperation: Hannes Meyer, 1928-1930 Direktor des Bauhauses).
1930 wurde Ludwig Mies van der Rohe zum Direktor am Bauhaus Dessau berufen und Josef Albers zu dessen Stellvertreter bestellt. Mies war einer der bedeutendsten deutschen Architekten der Moderne, aber vor allem auf persönlichen Erfog bedacht. Charles Darwent beschreibt ihn als rabiaten Snobisten, der das Bauhaus zur Architektenschule machte, Kunst als überflüssig betrachtete, Marxisten am Bauhaus verdrängte und Konflikte am Bauhaus verschärfte. Gunta Stölzl und Paul Klee kündigten. Zwei Jahre später kündigten auch Feininger und weitere Mitarbeiter. Da Albers blieb, wurde er im Bauhaus wichtiger. Als Antikommunisten gefiel Albers die politische Neuausrichtung. In einem Brief an einen Freund bezeichnete er Mies als "Prachtkerl" (Darwent: Josef Albers, a.a.O., S. 265f.).
1932 zog das Bauhaus nach Berlin um. Nationalsozialisten bekämpften das Bauhaus als bolschewistisch-jüdische Kirche des Marxismus und schlossen die Einrichtung 1933. In Deutschland wurden Albers Werke als entartete Kunst vernichtet. Mies von der Rohe verhielt sich gegenüber dem Nationalsozialismus opportunistisch. Da er trotzdem ausgegrenzt wurde, emigrierte er 1938 in die USA und feierte dort als Architekt seine größten Erfolge.
3.8 Anni und Josef Albers in der Emigration
Anni und Josef folgen einem Ruf in die USA an das Black Mountain College, eine nach dem Vorbild des Bauhauses 1933 gegründete interdisziplinäre Kunsthochschule (Spiegel: College-Experiment: In der Schule des Lebens).
1939 nahmen Anni
und Josef Albers die US-amerikanische Staatsbürgerschaft
an. Josef verstarb 1976 in New Haven, Connecticut. Anni verstarb 1999 in
Orange, Connecticut. Den Nachlass von Anni und Josef Albers verwaltet die Anni & Josef Albers Foundation.
3.8.1 Black Mountain College
Josef Albers wurde erster Direktor der Einrichtung, an der neben Anni und Josef u.a. die Maler Lyonel Feininger, William de Kooning, der Komponist John Cage und weitere Persönlichkeiten der kulturellen Avantgarde unterrichten (SMB: Black Mountain. Ein interdiszplinäres Experiment 1933-1957). Bei seinem Antritt am College wurde Josef Albers zu seiner Programmatik befragt. Albers ging es nicht darum, Maltechniken zu unterrichten. In seinem rudimentären Englisch erklärte er: "I exist to open eyes". Neben seinem Unterricht begann Josef Albers am College wieder zu malen. Die öffentliche Wahrnehmung seiner Arbeiten blieb für ihn über mehrere Jahre deprimierend.
John Cage und Josef Albers standen sich in ihren performativen Praktiken nahe und waren befreundet. Beide verbindet eine hohe Sensibilität für Raum, Zeit, Schweigen. Am College gehörte zu Albers Schülern u.a. Robert Rauschenberg. Das Verhältnis zwischen den beiden war schwierig. Albers hielt Rauschenberg für einen Dummkopf und verführte Rauschenberg dazu, möglichst das Gegenteil dessen zu machen, was Albers forderte, jedoch in der gleichen künstlerischen Haltung. Rauschenberg bezeichnete Albers später als seinen wichtigsten Lehrer. Zitat aus Barnebys Magazin, Josef Albers und die Liebe zum Quadrat: "Über
seinen Lehrer sagte Robert Rauschenberg einmal: "Albers war ein
wunderbarer Lehrer, aber eine unmögliche Person. Seine Kritik war so
verheerend, dass ich niemals um sie gebeten hätte. Doch 21 Jahre später
lerne ich immer noch das, was er mir beigebracht hat."
Das revolutionäre Konzept absoluter Gleichberechtigung zwischen Lehrern, Schülern, Mitarbeitern sowie Aufhebung von Rassentrennung bewährten sich im kulturellen Umfeld auf Dauer nicht. Teilnehmer rieben sich in endlosen Diskussionen auf. Die Zahl der Schüler sank. Lehrer begannen zu kündigen, anderen wurde gekündigt. Anfang 1949 hatten auch die Albers genug und reichten ihre Kündigung ein. 1957 wurde das College geschlossen.
3.8.2 Yale Universität etc.
1950 erhielt Josef Albers einen Ruf an die Yale University. Dort flogen erst einmal die Fetzen zwischen Positionen des Abstrakten Expressionmus und Vertretern mit einem eher funktionalen Verständnis von Kunst. Albers setzte sich durch. Er wird zum Professor und Leiter des Art Departement ernannt, das Malerei, Bildhauerei und Grafik in enger Anbindung an das Architektur-Departement zusammenfasst. Dieses Amt leitete er bis zu seinem Ausscheiden. Erfahrungen des Black Mountain College ließen Albers in Yale einen gegensätzlichen pädagogischen Stil praktizieren. Unter den Studenten räumte Albers gnadenlos auf. Arbeiten von Studenten kritisierte er teilweise so brutal, dass diese in Tränen ausbrachen (Darwent: Josef Albers, a.a.O., S. 351ff.).
In den 1950er Jahren übernahm Josef Albers mehrere Gastdozenturen und folgte einer Gastprofessor an der Hochschule für Gestaltung Ulm. Bei seiner Rückkehr nach Yale hatte sich seine Haltung gegenüber Studenten im positiven Sinn verändert.
Bei aller Härte war Albers Hingabe und Engagement gefragt. Albers wollte seine Schüler gegen erwartbare Kritik abhärten.
Ehemalige Schüler berichten, dass Albers sie alle wirklich geliebt habe,
aber auf seine eigene, schwierige Art und Weise (Darwent: Josef Albers, a.a.O., S. 358). Zu seinen Schülern zählten u.a. Eva Hesse, Richard Serra, Richard Anuszkiewicz. Unter der Professorenschaft von Yale schuf sich Albers zahlreiche Feinde, die schließlich 1957 dessen Pensionierung mit einer Rente durchsetzten, die nach 6 Jahren Yale klein ausfiel und zum Leben nicht reichte. Da sich seine Gemälde nur äußerst zäh zum kleinen Preis verkauften, arbeitete Albers ohne Status in Teilzeit weiter. (Darwent: Josef Albers, a.a.O., S. 384f.) Trotz seiner Widersprüchlichkeiten genoss Albers bei einem Kern der Studenten hohe Wertschätzung. Seinen Schülern empfahl er: "Folge nicht mir. Folge dir selbst." (Darwent: Josef Albers, a.a.O., S. 390)
Anni arbeitete ab 1950 bis 1962 als freischaffende Weberin. Da sie Textilkunst als Kunsthandwerk empfand und sich auch noch motorische Handicaps einstellten, gab sie das Handwerk auf und betätigte sich als Grafikerin mit Entwürfen für Textilien. Eines der bekanntesten Werke Anni Albers ist das gewebte Holocaust-Mahnmal "Six Prayers" (1966/67), eine Auftragsarbeit des Jüdischen Museums New York (Jewish Museum: Six Prayers).
3.9 Bewertung der Arbeiten von Anni und Josef Albers in der Gegenwart
Als Kunstsammler lernte der Schauspieler Maximilian Schell Anni und Josef Albers persönlich kennen. Ein Artikel des Kunstmagazins monopol beschreibt Schells vielsagende Begegnungen mit dem Ehepaar Albers: Schauspieler Maximilian Schell: Ein sammelnder Künstler unter Künstlern.
Obwohl der Einfluss von Josef Albers auf die zeitgenössische Kunst kaum überschätzt werden kann, blieben dessen Arbeiten im internationalen Kunstmarkt bis in den 1960er Jahren unter dem Radar, obwohl er immerhin 1955 Teilnehmer der documenta 1 und 1968 der 4. documenta in Kassel war. Nach dem 2. Weltkrieg dominierten in der Malerei zunächst Abstrakter Expressionismus, Action Painting, Farbfeldmalerei, abgelöst von Pop Art, Minimal Art, Op-Art, Hard Edge (Harte Kante). Josef Albers passte in keine der Schubladen und wurde im Kunstmarkt kaum wahrgenommen.
Schenkung der 1. Bildserie |
Erst anlässlich seines 80. Geburtstages erfuhr Josef Albers 1968 mehrere Ehrungen: Einzelausstellung Landesmuseum Münster, Doktortitel der Universität Bochum, Großer Kunstpreis für Malerei des Landes NRW sowie einen Einzelraum auf der 4. documenta in Kassel. 1970 wurde Albers zum Ehrenbürger von Bottrop ernannt. Die Kunsthalle Düsseldorf ehrte ihn mit einer Ausstellung. Für die Ehrenbürgerschaft bedankte sich Josef Albers mit der Schenkung von 6 Homages, die zur Entstehung des 1983 eröffneten Museums Quadrat Bottrop beitrugen. 1970 war er in der Ausstellung New York Painting and Sculpture: 1950-1970 des Metropolitan Museum New York mit einem eigenen Raum vertreten. 1971 erhielt er im Met eine Einzelausstellung, für die auch das Guggenheim Museum New York im Gespräch war, aber den Kürzeren zog (Darwent: Josef Albers, a.a.O., S. 431 f.). Josef Albers hatte zur Spitze der Kunstwelt aufgeschlossen. Bescheidenen Wohlstand erreichte er erst in den letzten Lebensjahren. Preise der Werke blieben vergleichsweise überschaubar. Er hatte zuviel produziert. Außerdem hatte er seine Bilder mit detaillierten Rezepturen versehen, sodass jeder die Bilder nachmachen oder auch fälschen konnte. Ähnlich wie van Gogh ging es Josef Albers primär um sinnliche Wahrnehmung und den Blick auf die Welt und erst in zweiter Linie um Ansehen und Wohlstand. Bei aller Widersprüchlichkeit der Person empfinden wir für Sympathie für diese Haltung.
Anni stand lange im Schatten von Josef. In jüngerer Zeit setzte eine Neubewertung ein, mit der Anni auf gleicher Höhe wie Josef gesehen wird (SZ: Das Bauhaus macht Feuer). Anni Albers erhielt als erste Textildesignerin 1949 eine Einzelausstellung am MoMa in New York. Eine große Retrospektive zeigten 2018 das Düsseldorfer K20 und anschließend die Tate Modern, London. In der Gegenwart gilt Anni Albers als eine der bedeutendsten Textilkünstlerinnen des 20. Jahrhunderts (Art in Words: Anni Albers: Textilkünstlerin mit Folgen).
2021 richtete das Musée d’art moderne de la ville de Paris eine große Doppelausstellung für Anni und Josef Albers aus, in der Arbeiten der beiden gleichwertig nebeneinander standen: Tagesspiegel: Anni und Josef Albers im Musée d’Art Moderne de Paris: Große Kunst, große Liebe
4 Anmerkungen zu Kunst, zum Kunstmarkt und zu Museen des Ruhrgebiets
Kulturelle Eliten bevorzugen tendenziell eher
konservative Werte, die ihren sozialen Status legitimieren und festigen.
Wertschätzungen von kulturellem Kapital
und Bildungskapital prägen sich als typisches Identifikationsmerkmal
kultureller Eliten aus. Moderne Kunst reibt sich mit hochkulturellen Bildungskernen und genießt daher generell geringere Wertschätzung als zeitlose klassische Kunst, solange sie nicht als klassische Moderne museal etabliert ist. Mit bestehenden Konventionen ihrer jeweiligen Zeit brechende Avantgarde-Kunst erreicht erst dann Anerkennung, wenn sie im Kunstmarkt hohe Preise erzielt und in Kunstmarkt-Rankings wie Mei Moses Fine Art Index oder Kunstkompass sichtbar wird. Mit dem Aufstieg in Kunstmarkt-Rankings wird Kunst museumswürdig. Allerdings ist sie dann nicht mehr kreative und innovative Avantgarde, sondern etabliert oder Mode.
Wie jeder Markt unterliegt auch der Kunstmarkt Moden
im Sinne temporär geltender Werte und Regelsysteme, die einem ständigen
Wandel unterliegen. Dynamik, Gestalt und Richtung von Moden und ihrem
Wandel sind schwer messbar und wie jede Zukunftaussage in Anbetracht der
Komplexität der Welt nur eingeschränkt vorhersagbar. Mit Beobachtungen,
Deutungen und Vorhersagen von Trends
befasst sich Trendforschung. Weitgehend Konsens besteht hinsichtlich der
Annahme, dass Mode als ein nonverbales symbolisches Zeichensystem zu verstehen ist, das der
Selbstdarstellung sowie der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen und der Distinktion von sozialen Gruppierungen dient.
Hinsichtlich moderner Kunst verschließen sich Museen gegenüber Moden nicht prinzipiell, aber sie sind bemüht, solche Kunst zu identifizieren, von denen anzunehmen ist, dass sie über kurzfristige Moden hinausweisen und potentiell überzeitlich für Klassifizierungen zeitlicher Epochen bedeutsam sind. Teilweise bestimmen private Sammler via Leihgaben und Stiftungen, welche Kunst in Museen ausgestellt wird. Da Klassifizierungen von Kunst nicht auf empirischen Sachverhalten beruhen, sondern Artefakte darstellen und hochkulturell verankerte implizite oder explizite Werturteile generell angreifbar sind, bezieht sich der Kunstbegriff letztlich auf subjektiv empfundene emotionale Qualitäten, die der Begriff der Ästhetik zugleich enthüllt und verhüllt.
Ähnlich wie bei Reliquien sind Materialwert, Arbeitswert und materielle Qualität für den Wert eines Objektes unbedeutend. Den Wert bestimmen immaterielle Qualitäten. Kunstobjekte umgibt ähnlich wie Reliquien eine nicht empirisch beobachtbare und nur für 'Wissende' sichtbare oder spürbare magische Aura bzw. Ausstrahlung. Während von sakralen Reliquien geglaubt wird, dass sie Wunder bewirken, fehlt Kunstobjekten diese Kraft. Aber letztlich ist es diese Aura, die profane Objekte in sakrale Objekte und in Kunstobjekte verwandelt. Den Wert von Reliquien bestimmen ihre Herkunft und die Personen zugeschriebene Bedeutung. Den Preise von Kunstobjekten bestimmt die vermeintliche Stärke dieser geheimnisvollen auratischen Energie, die auf Besitzer ausstrahlt, die sich dank dieser Objekte von der Masse aller Menschen abheben und subjektive Emotionen der Einzigartigkeit verstärken.
Hohe Wertigkeiten von Reliquien und hohe Preise von Kunstobjekten verleiten zu deren Fälschungen. Gier von Sammlern, Galeristen, Händlern, Beratern, Künstlern verseucht den Kunstmarkt mit Fälschungen. Die Dunkelziffer ist hoch. Experten schätzen, dass 40-60 % aller im Kunsthandel kursierenden Werke gefälscht sind.(1) Künstler sind auch nur Menschen und daher anfällig für Betrügerei. Z.B. lassen sie Arbeiten von Assistenten anfertigen und autorisieren diese Arbeiten per Signatur. Als in der Kunstgeschichte unübertroffen unrühmliches Beispiel für Fälschungen gilt Salvator Dalí, dessen Druckgrafiken zu den Spitzenreitern gefälschter Kunst zählen. Dalí soll Zehntausende Papierbogen blanko signiert und 40 Dollar je Bogen erhalten haben.(2) Besonders anfällig für Fälschungen sind z.B. Schablonengrafitti von Banksy oder auch Arbeiten von Andy Warhol aufgrund dessen serieller Produktion.(3)
Medien, Besucher von Museen bzw. Rezipienten von Kunst sind in diesen Mechanismen
verstrickt und beeinflussen ihrerseits ebenfalls Vorlieben und Preise
des Kunstmarktes, aber mit nachrangiger Bedeutung. Unabhängig ihrer sozialen Herkunft sind Rezipienten von Kunst
von ihrer individuellen Sozialisation geprägt und entwickeln daher unterschiedliche Ansichten von Kunst und ihrer Wertigkeit. Während im Bürgertum vorwiegend konservative Ansichten von Kunst verbreitet sind, heben sich Ansichten von Außenseitern
revolutionär oder reaktionär ab. Subjektive Ansichten
entstehen nicht kontingent (zufällig oder beliebig), sondern
prägen sich aufgrund von Strukturen und Prozessen sozialer Lebenswelten
aus, die in ihrer Vielfalt nicht allgemeingültig eingrenzbar sind und
sich daher nur in konkreten Kontexten erschließen.(4)
Eliten zählen zu sozialen Außenseitern. Unter Eliten sind die Förderung und das Sammeln von hochkultureller Kunst im Allgemeinen und von avantgardistischer Kunst im Besonderen beliebt, weil hochkulturelle Kunst soziale Distinktion ermöglicht und gleichzeitig praktischen Nutzen als Statussymbol und Spekulationsobjekte spendet. Darum beeinflussen Eliten Moden oder Trends des Kunstmarkts. Museen
spiegeln einen von hochkulturellen Eliten dominierten Kunstmarkt. Wechselwirkungen zwischen dem Kunstmarkt und Nachfragen von
Sammlern sind intransparent und funktionieren nach Regeln, die nur Insider kennen. Die Organisation von Kunst-Rankings und deren Veröffentlichungen in Wirtschaftsmagazinen wie Capital, Manager Magazin, Bilanz verdeutlichen, dass Kunst elitärer Hochkultur nicht nur um ihrer selbst willen geschätzt wird, sondern auch als Handelsware, die jedoch vorgibt mehr zu sein, ohne zumindest bei moderner
Kunst genauer bestimmen zu können, woraus vermeintliche symbolische
Überschussbedeutungen bestehen.(5) Deutungen bleiben individueller subjektiver Anschauung überlassen.
Im
Ruhrgebiet lebende Menschen haben überwiegend andere Sorgen. Das
Ruhrgebiet gilt als strukturell prekär. In den großen Städten liegt die
Armutsquote bei 22 %.(6) Durchschnittlich verfügbare Einkommen privater
Haushalte des Ruhrgebiet liegen am Ende eines Rankings aller Städte und
Kreise Deutschlands.(7) Gleichzeitig liegt der Gini-Koeffezient
(Maß der Ungleichheit von Verteilungen) von Städten des Ruhrgebiets in
Deutschland an der Spitze.(8) Dass Museen wie das Quadrat Bottrop trotz defizitärer
öffentlicher Haushalte im Ruhrgebiet existieren, ist Politik zu verdanken und dient
vermutlich der überregionalen Wahrnehmung und Profilierung der Region. Wie überall, schmücken sich auch im Ruhrgebiet Einzelpersonen mit Kunst. Politik nutzt die gleichen Mechanismen, um die Region des Ruhrgebiets mit Hilfe von Kunst zu schmücken.
- Wikipedia: Kunstfälschung
- Wikipedia: Dalís gefälschte Druckgrafiken
- FAZ: Warhols Wächter walten
- Detailliertere Betrachtung im Post: Pierre Bourdieu, Habitas und Doxa - Machteliten und Machtstrukturen.
- Deutschlandfunk: Ist Kunst heute nur noch Ware?
- Armutsbericht 2022 des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes (PDF, 34 Seiten)
Gemäß EU-Konvention gelten Personen als einkommensarm, deren Einkommen unter 60 % des Mittelwerts (Median) aller Einkommen liegt. Die Berechnung ist auf Seite 32 des Berichts erläutert. - Hans Böckler Stiftung: Einkommen privater Haushalte im Vergleich 2019
- Fokus, 23.03.2023: Gehalts-Forscher zeigen, wo die Ungleichheit im Land am größten ist
5 Änderungshistorie des Posts
20.05.2023: Kapitel 4: Ergänzungen zu Kunstmarkt und Kunstfälschungen
19.05.2023: Kapitel 4: neu: Aspekt von Kunst und ihrer Verbreitung
18.05.2023: Kapitel 1: Ergänzung statistischer Vergleiche, Änderung Überschrift
Kapitel 3.8: Ergänzung Todesdaten
17.05.2023: Kapitel 1: Wahrnehmung und Wertschätzung moderner Kunst
16.05.2023: Kapitel 2.1.1: Ergänzungen zum Vergleich Albers mit Rothko
Kapitel 2.1.2: Ergänzung "Wrestling"
Kapitel 3.8.1: Ergänzung Rauschenberg-Zitat
15.05.2023: Kapitel 2.1.1: Zitat zu serieller Kunst eingefügt
Kapitel 3.1: neu eingefügt, inhaltlich3 Umsortierungen
Kapitel 3.8: Ergänzungen
Korrekturen und stilistische Überarbeitung in allen Kapiteln
14.05.2023: Änderung Inhaltsübersicht
Kapitel 2.1: Verweis auf den Blog Arte Concreta verlink
Kapitel 3.1: Theo van Doesburg ergänzt
Kapitel 3.6: Ergänzung Anmerkungen zu Mies van der Rohe
Kapitel 3.7: Aufgliederung in 2 Unterkapitel mit inhaltlichen Ergänzungen
13.05.2023: Kapitel 2.1: Verweis auf die Albers-Biographie von Charles Darwent eingefügt
Kapitel 2.1.1: Zitat von Nicole Büsing & Heiko Klaas eingefügt
Kapitel 2.1.2: Hinweis auf Beistelltische als Vorläufer der Homages aufgenommen
Kapitel 3.1 eingefügt
Kapitel 3.8: Hinweis auf Retrospektive Anni Albers eingefügt
09.05.2023: Veröffentlichung der Urversion
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