Das Ostseebad Ahrenshoop auf der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst hat zwar lt. Wikipedia nur 680 Einwohner (Stand 31.12.2022), gilt aber als touristischer Hotspot. Ruhig ist es im ehemaligen Fischerdorf nur im Winterhalbjahr, wenn viele Gastbetriebe geschlossen sind. Im Sommerhalbjahr fluten Übernachtungs- und Tagesgäste, großvolumige SUVs, Cabriolets, E-Biker das Dorf, das mit seinen zahlreichen Hotels, Restaurants, Cafés, Galerien, Immobilienbüros, Zimmervermittlern etc. eher einem kleinen, feinen Seebad gleicht, in dem betuchte Gäste auf 5*-Luxus und Sushi nicht verzichten müssen. Abseits kommerzieller Betriebsamkeit bietet das Kunstmuseum Ahrenshoop einen Ort der Ruhe, Erinnerung, Kontemplation, über dessen Besuch der Post nach kurzer historischer Rückschau berichtet.
Ahrenshoop historisch
In Zeiten nach der politischen Wende waren wir regelmäßig Gäste im damals noch ruhigeren Dorf. Seit 2014 bevorzugen wir in der Region das Dorf Born am Darß als Urlaubsort. Obwohl Borns Gemeindefläche 12x größer ist, der Ort ca. 66 % mehr Einwohner hat und gefühlt zur Hälfte aus Ferienwohnungen besteht, praktiziert Born die Kunst entschleunigten Lebens, der wir mehr abgewinnen können als Hotspots. Darßwald und Darßer Weststrand des Nationalparks Vorpommersche Bodderlandschaft sowie der im beschauliche Nachbarort Wieck stattfindende Darß-Marathon motivierten den Ortswechsel zusätzlich. - NDR Video-Story: Das Dorf soll unser bleiben (Born) - Landparty: Fischland-Darß-Zingst
- Kunstmuseum Ahrenshoop: Kunstgeschichte von Ahrenshoop
- Wikipedia: Ahrenshoop.Künstlerkolonie
- NDR: Ahrenshoop: Künstlerkolonie für Generationen
Aus privatem bürgerlichem Engagement konstituierte sich 2005 ein Verein der Freunde und Förderer eines Kunstmuseums Ahrenshoop, dessen Engagement das 2013 eröffnete Kunstmuseum Ahrenshoop zu verdanken ist. (Wikipedia: Kunstmuseum Ahrenshoop)
Besuch des Kunstmuseum Ahrenshoop
Dieser Post beschreibt subjektive Eindrücke zur Museumsarchitektur und zu aktuellen Ausstellungen. Zum Zeitpunkt des Besuchs zeigt das Museum eine ständige Sammlung mit Arbeiten Ahrenshooper Künstler und präsentiert in 4 weiteren Räumen 4 Sonderausstellungen. Der Standard-Eintrittspreis beträgt 10 € mit Gästekarte bzw. 12,80 € ohne Gästekarte. Onlinebuchung eines Tickets ermäßigt den Preis um 1 €. Preise werten wir als gerechtfertigt. Wer innerhalb des Museums fotografieren möchte, muss für zusätzlich 5 € eine Fotoerlaubnis erwerben. 5 € empfinden wir für eine Fotoerlaubnis als recht forsch, aber wir haben gezahlt und einen Ausweis an einem Band erhalten. Besucher ohne Ausweis am Band haben ebenfalls fleißig fotografiert.
Im zentralen Eingangsbereich befinden sich Kasse, Garderobe und ein kleiner Shop. In Nischen des Eingangsbereichs sind mehrere Arbeiten der ständigen Sammlung ausgestellt, u.a. ein männlicher Terrakottakopf von Gerhard Marcks und ein kleines Café eingerichtet, das 4 Arbeiten von Stefanie Rübensaal ausstellt. In nachfolgenden Beschreibungen vergibt die Auswahl eingefügter Fotos keine Noten, sondern orientiert sich willkürlich an dem, was uns gefällt.
Museumsarchitektur
Konzipiert wurde der Neubau des Museums vom Berliner Architekturbüro Staab Architekten.
Das Architekturkonzept transformiert die regional typische Bauweise
reetgedeckter Häuser zu 5 mit Messing verkleideten Kuben mit 5
Ausstellungsräumen und einem zentralen Eingangsbereich. Anlässlich des 10-jährigen Museumsjubiläums hat das Architekturbüro einen der Ausstellungsräume gestaltet.
Museumsausstellung: Ständige Sammlung - Fotoserie
Die Dauerausstellung zeigt ca. 100 von 800 Arbeiten des museumseigenen Sammlungsbestands. Das Profil des Bestandes beschreibt das Museumsportal: Die Sammlung
Elisabeth von Eicken (1862 - 1940)
Links: Inneres einer Scheune mit Hühnern, 1900, Öl auf Leinwand
Mitte: Kirschblüte, 1905, Öl auf Leinwand
Rechts: Frühling, 1895, Öl auf Leinwand
Links: Gerhard Marcks (1889 - 19819, Ziehende Schwäne I, 1944, Holzschnitt
Mitte: Otto Altenkirch (1875 - 1941), Abendstimmung am Bodden, 1905, Öl auf Leinwand
Rechts: Friedrich Grebe (1850 - 1924), Am Waldesrand, 1900, Öl auf Leinwand
Links: Paul Müller-Kaempff (1861 - 1941), Der alte Schifferfriedhof in den Dünen, 1893, Öl auf Leinwand
Mitte: Paul Müller-Kaempff, Frauen bei der Ernte im Garten, nach 1900, Öl auf Leinwand
Rechts: Friedrich Wachenhusen (1859 - 1925), Auf der Landstraße o.J., Öl auf Leinwand
Sonderausstellung: Juwelen der modernen Kunst auf dem Fischland und Darß (01.04.-15.10.2023) - Fotoserie
Vorstellungen "moderner Kunst" sind nicht normiert, sondern dehnbar. Moderne Kunst bezieht sich im Kunstmuseum Ahrenshoop nicht auf zeitgenössische Kunst, sondern auf Malerei der klassischen Moderne aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Überwiegend aus Privatbesitz entliehene Ausstellungsobjekte ordnen wir zwar als sehenswert ein, aber der Begriff Juwelen im Ausstellungstitel gefällt uns nicht. Gegen Highlights oder Best of wäre wenig einzuwenden, jedoch Juwelen? Der Begriff suggeriert objektive Wertigkeit, die empirisch nicht existiert. Wertigkeit ist keine Eigenschaft von Objekten, sondern beruht auf Urteilen. Schönheit liegt im Auge des Betrachters, besagt die dem antiken Geschichtsschreiber Thukydides zugeschriebene Erkenntnis. Der Begriff Juwelen erinnert an unsäglich alberne Superlative der schönsten Volkslieder, Volksmärchen, Weihnachtslieder, Opernchöre etc., die individuell, kulturell und historisch variierende Präferenzen vergänglicher Schönheit zu vermeintlich objektiven empirischen Sachverhalten verklären.
Das Profil der Sonderausstellung beschreibt das Museumsportal: Juwelen der modernen Kunst auf dem Fischland und Darß und hinterlässt Fragen. Bedeutende Arbeiten von in Ahrenshoop tätigen Künstlern der klassischen Moderne fielen unter das nationalsozialistische Verdikt Entartete Kunst. Betroffen waren Hans Brass, Lyonel Feininger, César Klein, Gerhard Marcks, Alfred Partikel und wahrscheinlich weitere ungenannte Künstler. Zahlreiche Werke wurden wegen Entartung vernichtet und die Künstler teilweise mit Arbeitsverbot belegt. Mit der Verwertung bzw. dem Verkauf hochrangiger Arbeiten in das Ausland wurden zwielichtige Kunsthändler beauftragt, unter denen sich als nach allen Seiten besonders geschmeidig Bernhard A. Böhmer hervortat, der zahlreiche Kunstwerke für seine eigene Sammlung bei Seite schaffte und mit Verkaufsstrategien entarteter Werke zum Millionär wurde. Dass Zusammenhänge keineswegs immer sauber sortiert werden können, verdeutlicht ein Artikel der ZEIT vom 17.10.2021 über Alfred Partikel und das Mysterium seines Verschwindens: Alfred Partikel - Schuld und Rettung
Immerhin war sich Böhmer der Fragwürdigkeit seines Verhaltens bewusst und beging am 3. Mai 1945 mit seiner Frau Selbstmord, als sich die sowjetische Armee näherte. Merkwürdigerweise finden beschriebene Sachverhalte in der Profilbeschreibung der Ausstellung keine Erwähnung.
Links: Landschaft mit Regenbogen, 1922, Öl auf
Mitte: Leinwand
Landschaft auf dem Fischland, 1923, Öl auf Leinwand
Rechts: Landschaft bei Ahrenshoop, 1933, Öl auf Hartfaser
Links: Formen V, 1920, Öl auf Leinwand
Mitte: Ostseestrand, 1945, Öl auf Leinwand
Rechts: Dorfstraße, 1946, Öl auf Leinwand
Mitte: César Klein (1876-1954), Bauernkate, 1906, Öl auf Malpappe
Rechts: Lyonel Feininger (1871-1956), Düne am Abend, 1927, Öl auf Leinwand, auf Pappe
Ein irritierender Ausstellungstitel und schwurbelnde Beschreibungen im Ausstellungsprofil im Museumsportals (Hartwig Hamer (*1943)" - Vibrationen der Stille) hüllen die Ausstellung in verbalen Nebel:
Hamers großes Thema ist die Ebene, die sich unter einem weiten hohen Himmel bis zum Horizont erstreckt. In seinen Werken ist der Himmel voller Fluidum, ist vielsagend, weit über eine Ausdeutung von Witterungsphänomenen hinaus. Der Rauminhalt, den Hamer sieht, besteht aus Gegenwart, aus Wissen und Erinnerung in einer ausgreifenden Dimension.
Im Wikipedia-Eintrag Hartwig Hamer verdichtet ein Zitat von Hans Hartog (Vertreter einer spirituellen hochkirchlichen Bewegung der evangelischen Kirche) diesen Nebel:
„Es ist Hartwig Hamer in meinen Augen tatsächlich [...] ein Bildner und Deuter des in der Natur (auch der menschlichen) uns umgebenden und begegnenden Geheimnisses [geworden] … er sucht im Sichtbaren das Unsichtbare.“
Hamers Werke (überwiegend zarte Aquarelle und Tuschezeichnungen) sind im Grenzbereich zwischen Realität und Abstraktion weder langweilig noch spannend, sondern eher beliebig. Möglicherweise fehlt uns die passende innere Einstellung oder die richtige Brille. Als merkwürdig bzw. fragwürdig empfinden wir die Art der Hängung der Arbeiten. Unklar bleibt, ob die Hängung lediglich der begrenzten Fläche geschuldet ist oder Unsichtbares sichtbar machen möchte.
Links: Meine Landschaft, 1996, Aquarell
Mitte: Blick in den Ausstellungsraum
Sonderausstellung: Staab Architekten: 10 Jahre, 5 Orte, 5 Museen (01.04.-15.10.2023) - Fotoserie
Das Profil der Sonderausstellung beschreibt das Museumsportal: Staab Architekten: 10 Jahre, 5 Orte, 5 Museen
Den Neubau des vor 10 Jahren eröffneten Kunstmuseums Ahrenshoop hat das renommierte Berliner Architekturbüro Staab Architekten konzipiert.
Anlässlich des 10-jährigen Museums präsentiert das Architekturbüro 5 Museumsprojekte der vergangenen 10 Jahre, deren Konzepte sich an Formensprache der Bauhaustradition orientieren:
- Neubauprojekt des Kölner Stadtmuseums, dessen Eröffnung für 2030/2031 geplant ist, aber erfahrungsgemäß sind in Köln Termine öffentlicher Bauprojekte kein Papier wert (Foto Mitte),
- 2014 eröffneter Neubau des LWL-Museums Münster (Foto rechts),
- 2020 eröffnete Erweiterung des jüdischen Museums Frankfurt,
- 2015 eröffnete Neugestaltung des Richard-Wagner-Museums, Bayreuth,
- Erweiterung des Bauhaus-Archivs Berlin (Termin der Wiedereröffnung frühestens im Herbst 2025).
Sonderausstellung: "Ob die Möwen manchmal an mich denken?" - Die Vertreibung jüdischer Badegäste an der Ostsee (19.08.-11.10.2023) - Fotoserie
Diese Sonderausstellung konfrontiert nicht unmittelbar mit dem schmerzhaftestem und düsterstem aller Kapitel jüngerer deutscher Geschichte, Nationalsozialismus und Holocaust, sondern sie dokumentiert einen historisch in Deutschland verbreiteten und ab Ende des 19. Jahrhunderts zunehmenden rassistischen Antisemitismus in einem zeitgeschichtlichen Ausschnitt des Tourismus an der Ostseeküste. Mit einer Reihe von Faksimiles vermittelt die Ausstellung, wie die Ausbreitung von Judenhass zum Ausschluss jüdischer Urlaubsgäste in Bädern der deutschen Ostseeküste führte. Dieser Prozess trug zur Ermöglichung von Nationalsozialismus und Holocaust bei. Verständlich wird dieser Prozess im Übergang vom 19. zum 20.
Jahrhundert aber erst im Kontext nationaler und europäischer politischer,
wirtschaftlicher, sozialer Verflechtungen. Die Ausstellung verzichtet auf Darstellungen und Deutungen in größeren Kontexten. Parallelen zu aktuellen Entwicklungen bleiben ausgeblendet, was aufgrund von Sorgen der Gegenwart bedauerlich ist.
Nationalstaatliche Staatsmodelle sind keine Erfindung der Neuzeit, aber seit dem 18. Jahrhundert erblühen weltanschaulich Vorstellung von Nationen als autarker Schicksalsgemeinschaften von Ethnien unter jeweils eigener territorialer Herrschaft. Dieses Modell durchdringt soziales und politisches Denken mit weitreichenden Konsequenzen:
- Die Bevölkerung einer Nation versteht sich unter allen Ethnien als höherwertig ist darum zu politischem Patriotismus (nicht mit emotionaler Heimatliebe zu verwechseln) und im Extremfall zum Opfer des eigenen Lebens (für Gott, König und Vaterland) verpflichtet.
- Im eigenen Territorium gelten sich durch äußere Merkmale oder innere Überzeugungen von der Majorität unterscheidende Minderheiten als minderwertig und begründen Rassismus.
- Bewusst sich abgrenzende Minderheiten sind im eigenen Territorium nicht geduldet und werden terrorisiert.
- Abgrenzungen nach außen stärken Einheit nach Innen und rechtfertigen Bereitschaft zur wehrhaften Verteidigung gegen vermeintliche Bedrohungen durch potentielle äußere Feinde vermeintlich minderwertiger Ethnien.
Weltanschauung rassistischen Denkens prägen
sich in politisch radikalen Strömungen säkularer und religiöser Art aus. Historisch verursachte diese in Staatsmodellen verfestigte Denkweise
Katastrophen von zwei Weltkriegen, die im Kern als europäische Katastrophen aufzufassen sind, aber bis heute weitgehend unverstanden bleiben. Gemäß verbreiteter Auffassungen trifft eine leidende, gutgläubige, naive, Bevölkerung keine persönliche Schuld und Verantwortung, weil sie von charismatischen Demagogen heimtükisch verführt wurde.
Bis vor wenigen Jahren bestand berechtigte Hoffnung, dass die Welt aus jüngerer Geschichte gelernt hat und in nationalistischer Politik eingebettete rechtsradikale Überzeugungen überwunden sind. In der Gegenwart ist jedoch eine erneute Ausbreitung rechtsradikalen Gedankenguts in Deutschland und in Europa zu erkennen. Ein Vergleich historischer und gegenwärtiger Entwicklungen mag auf unterschiedliche politische Konstellationen und Auslöser verweisen. Ob oder in welchem Umfang sich menschliche Denk- bzw. Verhaltensdisposition sowie Folgen politischer Entwicklungen unterscheiden, ist eine Frage, zu deren Diskussion die Ausstellung anregen und beitragen könnte, wenn sie diese Option nicht verschenken würde.
Dass sich das Kunstmuseum Ahrenshoop dieser schwierigen, toxisch infizierten Thematik
stellt, ist als verdienstvoll anzuerkennen. Im
Ergebnis werten wir die Ausstellung als sehenswert und wichtig. Die
Umsetzung der Theamtik enttäuscht jedoch aufgrund von Mängeln. Offen
bleibt, ob das Museum Potentiale der Ausstellungsthematik dilettantisch
oder aufgrund bewusster Kalküle verschenkt.
Als
beschämend empfinden wir, dass diese wichtige Ausstellung deutscher
Zeitgeschichte lediglich in einem kleinen Projektraum der
Museumsdidaktik gezeigt und damit abgewertet wird. Wir hätten die
Ausstellung beinahe übersehen, weil wir annahmen, dass uns ein
Projektraum der Museumsdidaktik nicht interessiert. Angemessener
bzw. würdiger wäre eine schärfer profilierte Präsentation in einem der
vorhandenen großzügigen Ausstellungsräume (z.B. Tausch mit dem
Ausstellungsraum Staab Architekten oder zeitliche Verschiebung,
bis ein geeigneter Ausstellungsraum verfügbar ist). In offensichtlich
andere Prioritäten haben wir keinen Einblick und wollen wir über
Prioritäten nicht spekulieren.
Unter
den eingeschränkten Rahmenbedingungen fokussiert die Ausstellung nahezu
ausschließlich auf antisemitischen Badetourismus deutscher Ostseebäder
und benennt einige betroffene Prominente, aber sie vernachlässigt Kontexte,
in denen sich das politische Klima entwickelte. Diese Einengung
empfinden wir als dürftig, weil sie ein verzerrtes Bild historischer
Realität vermittelt. Immerhin war die Vertreibung jüdischer Badegäste
kein Kuriosum von Ostseebädern, sondern nur ein Aspekt systemischer
Kontexte, die keineswegs historisch überwunden sind. Autoritäre
Regierungsformen und rechtsextremes Denken nehmen weltweit und auch in
Deutschland erneut zu. Die am 21.09.2023 veröffentlichte Mitte-Studie 2023
der Friedrich-Ebert-Stiftung dokumentiert einen alarmierenden Zuwachs
rechtsextremer Gesinnung, der ähnlich wie vor gut 100 Jahren zunehmend
in die politische Mitte rückt. (Wikipedia: Mitte-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung)
Im Kontext der Ausstellung sind eine Reihe weiterer Aspekte und Einwände erwähnenswert, die überwiegend unbeachtet bleiben:
- Im Museumsportal beschriebenes Profil der Ausstellung "Ob die Möwen manchmal an mich denken?" - Die Vertreibung jüdischer Badegäste an der Ostsee weist darauf hin, dass der Titel der Ausstellung ein gleichnamiges Buch von Christine von Soden zitiert, das 2018 sowie 2023 in aktualisierter Neuauflage erschienen ist. (Rezension taz: Jüdische Badegäste unerwünscht)
- Sodens Buch ist ein Remake eines 2004 erschienen Vorgängerbuchs des Historikers Frank Bajohr mit dem Titel "Unser Hotel ist judenfrei". Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert.
- Rezension H / SOZ / KULT: F. Bajohr: "Unser Hotel ist judenfrei"
- Vortrag F. Bajohr: "Unser Hotel ist judenfrei“ - Alltagsantisemitismus in Bade- und Kurorten im 19. und 20. Jahrhundert (PDF)
- Judenhass breitete sich nicht nur an der Ostseeküste aus, sondern entwickelt sich bereits vor der Zeit des Nationalsozialismus als generelles Phänomen des Tourismus in deutschlandweiten Kur- und Badeorten und prägte bereits im 19. Jahrhundert den Begriff des Bäder-Antisemitismus. Deutscher Nationalsozialismus konnte an diese antijüdischen Stimmungen anknüpfen und generalisierte sie für alle Bereiche des öffentlichen Lebens.
- Wikipedia: Antisemitismus im Tourismus
- Martin Radermacher: Badeurlaub und Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert - Ein Überblick zu Hintergründen und Entwicklungen (PDF, 11 Seiten)
- Vergleichbare Entwicklungen bestanden in auffälligen Ausprägungen in Österreich als Sommerfrische-Antisemitismus und in den USA als Resort Antisemitism, die deutschen Bäder-Antisemitismus weit übertrafen. Judenhass beschränkte sich aber nicht auf genannte Länder. In allen sich zum christlichen Abendland bekennenden Ländern war rassistischer Judenhass und besonders stark in Osteuropa verbreitet, wo er auch noch in der Gegenwart vital ist. Auf kürzlich absolvierten eigenen Reisen durch Polen und den baltischen Ländern sind wir ohne Kenntnis der Vorgeschichte des osteuropäischen Anitsemitismus auf latenten Antisemitismus aufmerksam geworden, der in diesen Ländern konserviert ist.
- Protagonisten des deutchen Bäder-Antisemitismus waren Menschen des wohlhabenden konservativen, akademisch gebildeten Bürgertums (mittlere und höhere Beamte, Lehrer, Mediziner, Juristen, Ingenieure, Unternehmer, Kaufleute etc.) sowie niederer Adel und Großgrundbesitzer. Nur diese konnten sich Badeurlaube leisten und drängten auf Ausschluss wohlhabender Juden, um selbst ideell und materiell zu profitieren. Beliebte Badeorte warben mit dem Schlagwort "judenfrei" um zahlungskräftiges nicht-jüdisches Klientel. Besonders unrühmlich taten sich Zinnowitz auf Usedom und Borkum an der Nordseeküste hervor.
- Das auf Eigennutz ausgerichtete, jüdischen Wohlstand beneidende und Juden als dreist, anmaßend, verlogen, schmierig etc. beschimpfende wohlhabende Bürgertum bereitete Nationalsozialismus und Holocaust den Weg zum politischen Umbruch. "Judenreine" Badeorte wurden zum Modell des Kehraus zugunsten eines "judenreinen" Deutschlands. Bei Pogromen gegen Juden oder jüdische Einrichtungen haben sich Tausende beteiligt. Noch viel mehr Menschen standen applaudierend an der Straße, wenn jüdische Einrichtungen zerstört und Juden gewaltsam abgeführt wurden, um sie angeblich in 'Arbeitslagern' vermeintlich umzuerziehen.
Nachbetrachtung zur Ausstellung "Ob die Möwen manchmal an mich denken?"
Nach dem 2. Weltkrieg konnte/wollte sich das Bürgertum an diese Ereignisse und eigenes Verhalten nicht mehr erinnern. In der Nachkriegszeit stellte sich die nazifizierte Bevölkerung gegenseitig 'Persilscheine' aus und forderte als vermeintliche Vergangenheitsbewältigung einen Neuanfang mit Schlussstrich unter Ereignissen in der Zeit des Nationalsozialismus.
Konrad Adenauer, erster deutscher Nachkriegskanzler und selbst Verfolgter des Nationalsozialismus, sah die jüngere deutsche Vergangenheit sehr klar. In einem Brief vom 23.02.1946 schrieb er:
„Das deutsche Volk war auf die nationalsozialistische Agitation eingegangen. Es hat sich fast widerstandslos, ja zum Teil mit Begeisterung […] gleichschalten lassen. […] Im Übrigen hat man […] gewusst […], dass die persönliche Freiheit, alle Rechtsgrundsätze mit Füßen getreten wurden, dass in den Konzentrationslagern große Grausamkeiten verübt wurden, dass die Gestapo, unsere SS und zum Teil auch unsere Truppen in Polen und Russland mit beispiellosen Grausamkeiten gegen die Zivilbevölkerung vorgingen. Die Judenpogrome 1933 und 1938 geschahen in aller Öffentlichkeit. Die Geiselmorde in Frankreich wurden von uns offiziell bekannt gegeben. Man kann also wirklich nicht behaupten, dass die Öffentlichkeit nicht gewusst habe, dass die nationalsozialistische Regierung und die Heeresleitung ständig […] gegen die einfachsten Gebote der Menschlichkeit verstießen.“ (Konrad Adenauer: Umgang mit der NS-Vergangenheit)
Politisch taktierte Adenauer pragmatisch. Um ein Weiterleben trotz schwerer historischer Schuld zu ermöglichen,
drängte Adenauer auf einen Schlussstrich, der aber keinen Neuanfang,
sondern eine Fortsetzung im veränderten Rahmen bedeutete. Legendär sind 2 in der gleichen Quelle nachzulesende überlieferte Zitate:
- „Man schüttet kein dreckiges Wasser aus, wenn man kein reines hat.“
- „Ich meine, wir sollten jetzt mit der Nazi-Riecherei Schluss machen, denn verlassen Sie sich darauf: wenn wir damit anfangen, weiß man nicht, wo es aufhört.“.
Nicht anders dachten und handelten Bundespräsidenten der Nachkriegszeit,
unter denen sich lediglich Richard von Weizsäcker deutlich absetzte. (Das Bundespräsidialamt und der Umgang mit der NS-Vergangenheit 1949–1994. Ergebnisse eines Forschungsprojektes).
Immerhin gestand Theodor Heuss, erster Bundespräsident der
Nachkriegszeit, anlässlich einer Rede zur Eröffnung der Gedenkstätte
Bergen-Belsen am 30.11.1952: "Wir haben von diesen Dingen gewusst".
Heuss erntete heftigen Widerspruch und brüllendes Schweigen. Kollektivschuld wollte Heuss aber nicht eingestehen und sprach stattdessen von Kollektivscham. (Einweihung der ersten KZ-Gedenkstätte: Was die Deutschen wussten, aber nicht wissen wollten)
Die zeitgeschichtlich bedeutende, 1961 veröffentlichte Dissertation des US-amerikanischen Historikers Raul Hilberg "Die Vernichtung der europäischen Juden" fand in Deutschland zunächst keinen Verleger, nachdem Fritz Bolle,
Cheflektor bei Droemer Knaur die Arbeit negativ begutachtet hatte.
Bolle war 1943-1945 am Bau eines Außenlagers des KZ Buchenwald mit
Einsatz von Zwangsarbeitern beteiligt. Eine deutsche Übersetzung des
Buchs brachte erst der Kleinverlag Olle & Wolters 1982 heraus. Der
Historiker Hans Mommsen würdigte die Veröffentlichung als Beendung einer
skandalösen Einschränkung der Publikationsfreiheit in der
Bundesrepublik. In der Gegenwart gilt die mehrfach aktualisierte
Veröffentlichung als ein Standardwerk zum Thema.
In diesem politischen Klima kehrte das Bürgertum bald auf traditionell
privilegierte Positionen zurück und reklamierte Unwissen oder
behauptete, 'inneren Widerstand' geleistet
zu haben oder sich in 'innere Emigration' zurückgezogen zu haben. Willy
Brandts historischer Kniefall vom 7. Dezember 1970 am Mahnmal für den
jüdischen Aufstand im Warschauer Ghetto wurde weltweit mit Respekt
beachtet. In Deutschland war der Kniefall hoch umstritten und löste
Empörung aus.
Die verlogene Nachkriegsatmosphäre hinterlässt in der Sozialisation der Nachkriegsgeneration, zu der wir zählen, hässliche Narben und nicht verheilende Wunden.
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