Wir kennen Otto Dix (1891-1969) bisher vor allem als Maler einer als Neue Sachlichkeit bezeichneten Kunstrichtung, die sich nach dem 1. Weltkrieg als Gegenbewegung zum expressionistischen Pathos etablierte und die Welt objektiv darzustellen vorgab. In zahlreichen Gemälden stellt Otto Dix unkultivierte menschliche Roheit und Abgründe menschlichen Verhaltens dar, die er als Freiwilliger des 1. Weltkriegs kennenlernte und auch im Großstadtleben wahrnahm. In der NS-Zeit wurden etliche seiner Arbeiten als entartete Kunst diffamiert und Dix von seiner Professur an der Kunstakademie Dresden entlassen. Um sich nicht in Gefahr zu bringen, reagierte Dix auf diese Entwicklung mit Zurückhaltung. Er vermied offene gesellschafts- und zeitkritische Provokation und malte vor allem Porträts, Landschaften und religiöse Motive. Die Ausstellung in den Deichtorhallen konzentriert sich auf Werke, die Otto Dix während der NS-Zeit und darüber hinaus schuf und will vermitteln, dass zwischen Arbeiten der Weimarer Zeit (vor 1933) und der NS-Zeit (ab 1933) zwar ein Motivwechsel stattfindet, dieser aber nicht als ein tiefer Bruch aufzufassen ist. Dix habe lediglich aufgrund politischer Bedingungen seine subversiven Ansichten über vermeintliche Werthaltigkeit menschlichen Denkens und Verhaltens in andere Darstellungen transformiert. Ein zweiter Schwerpunkt der Ausstellung konzentriert sich auf die Rezeption seiner Werke in Arbeiten der Gegenwartskunst.
Im Besitz der Stadt Hamburg wurden die Deichtorhallen 1911-1914 in Hamburg-Hammerbrook in einem Gewerbegebiet zwischen dem Hauptbahnhof und dem Großmarkt als Markthallen errichtet. Die Hallen eignen sich hervorragend für große Ausstellungen und werden in dieser nicht gerade attraktiven alltagsnahen Umgebung seit 1989 für mehr als 160 bedeutende Ausstellungen moderner Kunst genutzt. Unser Interesse an der aktuellen Ausstellung Dix und die Gegenwart konzentriert sich auf Werke von Otto Dix. Bis auf einige Ausnahmen nehmen wir Arbeiten der Gegenwartskunst eher am Rande wahr und kommentieren nur eine der Arbeiten in diesem Post. Ausgestellte Dix-Bilder gliedern sich in 4 Werkgruppen, deren Verständnis dieser Post in nachfolgenden Kapiteln deutend beschreibt:
- Bis 1933: Krieg, Großstadt, Sex als Ausprägungen nur unvollständig domestizierbarer instinktiver menschlicher Triebhaftigkeit
- Ab 1933: Metaphorische Landschaftsdarstellungen
- Ab 1933: Naturalistische Porträtbilder
- Ab 1937: Religion als kulturelle Domestizierung menschlicher Triebhaftigkeit
Hinsichtlich des eigenen Verständnisses der Werkgruppen ist zu berücksichtigen, dass eine Ausstellung von 50 Arbeiten in den Deichtorhallen nur einen kleinen Ausschnitt eines Gesamtwerks zeigt, dessen dokumentierter Nachlass laut Werkverzeichnis
6300 Zeichnungen und Skizzen sowie eine nicht ermittelbare Anzahl von
Gemälden umfasst. Ob dieser Ausschnitt repräsentativ für das Gesamtwerk ist und generalisierende Aussagen gestattet, ist mangels eigener Expertise mit Vorsicht zu bewerten. Unstrittig markiert jedoch das Jahr 1933 eine zeitliche Bruchlinie des Werks von Otto Dix. Drastische, brutale, obszöne Darstellungen älterer Arbeiten diffamierte NS-Politik als 'Entartung' von Kunst im Sinne einer Verletzung ästhetischer Schönheitsideale bzw. als Rückfall in Barbarei, durch die vermeintlich Grenzen zivilisatorischen Fortschritts bewusst und inakzeptabel verletzt werden. In der Bekämpfung moderner Kunst aller Sparten proklamierte NS-Politik Deutungshoheit über Prozesse kulturellen Fortschritts, die vorgeblich nur mit gezielter Bekämpfung zivilisatorischer Schädlinge durchzusetzen sind und als Konsequenz die Vernichtung 'unwerten Lebens' sowie aller Juden rechtfertigt.
Das Bild Flandern ist in der aktuellen Ausstellung das einzige und letzte Bild einer Kriegsserie, mit der sich Otto Dix ab den 1920er Jahren einen Namen verschaffte und die seine Berufung an die Akademie der Künste motivierte. Die Kriegsserie trug aber auch maßgeblich zur Diffamierung dieser Bilder als 'entartet' und zur Entlassung von Dix als Kunstprofessor bei. Flandern malte Otto Dix erst 1934 bis 1936, also nach seiner Verfemung. Dix war bewusst, dass dieses Bild nicht öffentlich gezeigt werden konnte und vielleicht unverkäuflich war. Über persönliche Motive zur Erstellung dieses Bildes sind keine belastbaren Aussagen bekannt. Laut einer LWL-Pressemeldung 14.06.2018 zur Ausstellung Frieden. Von der der Antike bis heute im Jahr 2018 malte Otto Dix das Kriegsbild Flandern als "Mahnmal für den Frieden".
Die zitierte Deutung ist nachvollziehbar, aber wahrscheinlich handelt es sich hinsichtlich Dix' Interessen und seiner Ansichten zur menschlichen Natur um ein Missverständnis. Dix war an Politik nicht interessiert, bestätigt ein Beitrag des Deutschlandfunks anlässlich einer Dix-Ausstellung des Stuttgarter Kunstmuseums im Jahr 2012 (Deutschlandfunk, 10.11.2012: Das Auge der Welt). Wie Ernst Jünger (1895-1998) war auch Dix von Kriegen fasziniert. Beide meldeten sich zu Beginn des 1. Weltkriegs als Freiwillige an die Front.
In seiner Feldpost beschreibt Dix die "eigenartige seltsame Schönheit" einer aus Granattrichtern bestehenden Landschaft und schreibt an einen Kollegen: "Du kannst dir das nicht vorstellen, was das für ein Gefühl ist, wenn du einem anderen das Bajonett in den Wanst rammeln kannst."
(Zitat: Spiegel, 25.08.1999, anlässlich einer Dix-Ausstellung in Stuttgart: Unglücklich hinter dem Ofen)
(Zitat: Spiegel, 25.08.1999, anlässlich einer Dix-Ausstellung in Stuttgart: Unglücklich hinter dem Ofen)
Parallelen zwischen Otto Dix und Ernst Jünger bestätigen Artikel des Portals Kunstgeschichte (Das Antlitz des Weltkrieges. Soldatendarstellungen bei Ernst Jünger, Otto Dix und Max Beckmann) sowie des Portals Rheinischer Sammlerkreis (Otto Dix und Ernst Jünger – zwei deutsche Künstler im Ersten Weltkrieg).
Krieg
war für Dix eine wichtige Erfahrung, die ihn in seiner Kunst
voranbrachte. In verschiedenen Medien wird Dix mit den Worten zitiert:
„Der
Krieg war eine scheußliche Sache, aber trotzdem etwas Gewaltiges. Das
durfte ich auf keinen Fall versäumen! Man muss den Menschen in diesem
entfesselten Zustand gesehen haben, um etwas über den Menschen zu
wissen.“
"Ich musste auch erleben, wie neben mir einer plötzlich umfällt und, und weg, und die Kugel trifft ihn mitten. Das musste ich alles ganz genau erleben. Das wollte ich. Also bin ich doch gar kein Pazifist. Oder vielleicht bin ich ein neugieriger Mensch gewesen...“
"Ich musste auch erleben, wie neben mir einer plötzlich umfällt und, und weg, und die Kugel trifft ihn mitten. Das musste ich alles ganz genau erleben. Das wollte ich. Also bin ich doch gar kein Pazifist. Oder vielleicht bin ich ein neugieriger Mensch gewesen...“
Dix' Interesse an dieser Thematik war wahrscheinlich von seiner eigenen sexuellen Obsession motiviert, die öffentlich zwar überwiegend mit Diskretion behandelt wird, aber offensichtlich bekannt war und die er mit eigenem Verhalten, seinen Bildern und eigenen Aussagen bestätigte. Otto
Dix war vermutlich davon überzeugt, dass instinktive menschliche
Triebe kulturell nur unvollständig domestizierbar sind und
unkontrollierbare instinktive Anteile menschlicher Natur in Kriegen und
im Sex ihre Dominanz in Reinkultur offenbaren. Sex ist für Dix der
Haupttreiber menschlichen Verhaltens. In sein Kriegstagebuch schrieb Dix 1915/16 die Anmerkung:
"Eigentlich wird im letzten Grunde bloß aller Krieg um und wegen der Vulva geführt"
(Zitat: Holzschnitt Liebespaar, 1921 im Portal der Stuttgarter Staatsgalerie).
(Zitat: Holzschnitt Liebespaar, 1921 im Portal der Stuttgarter Staatsgalerie).
Vulven bildeten für Dix den Fetisch eines "göttlichen Dreiecks", das auf sein Leben wie nichts sonst auf der Welt einwirkte. Im Katalog zur Stuttgarter Dix Ausstellung von 1999 bezeichnet der Kunsthistoriker und Dix-Experte Rainer Beck den Maler Otto Dix als "sexuelles Raubtier". (Zitat: Spiegel, 25.08.1999: Unglücklich hinter dem Ofen)
Das provokative Potential der von Dix verbreiteten Ansichten und Darstellungen wird erst bei historischer Betrachtung sichtbar. In der Gegenwart ist Sex weitgehend enttabuisiert. Darstellungen von Nacktheit gehören zum Alltag. Explizite pornografische Darstellungen sind öffentlich problemlos erreichbar und werden zunehmend verkehrsfähig, selbst im öffentlich rechtlichen Fernsehen. Am 11.03.2023 präsentierte Jan Böhmermann in Zusammenarbeit mit einer erotic streaming Plattform in einer Sendung des ZDF Magazin Royale einen Porno und dessen Entstehung (Wikipedia: FFMM straight / queer doggy BJ ORAL orgasm squirting ROYALE (gebührenfinanziert)). Unter Ausschluss von Gewalt, Missbrauch, Belästigung setzen sich vor allem westliche Staaten bei Freiwilligkeit und Einvernehmlichkeit für sexuelle Selbstbestimmung und sexuelle Orientierung im Sinne von Menschenrechten ein (BMZ: Körperliche Selbstbestimmung und reproduktive Gesundheit). Abgesehen von Extremfällen gelten Fetischisierung von Sexualität und Praktizierung von Hypersexualität nicht mehr als kriminell, krankhaft oder sittenwidrig.
Soziale Normen der Sexualität haben sich in den vergangenen 100 Jahren libertär gewandelt. Dieser Prozess setzte zwar nach dem 1. Weltkrieg ein, aber in der sozialen Realität schaute es in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg völlig anders aus. Nacktheit und Sex waren tabuisiert. Sittenwidriges Verhalten wurde unter enger Auslegung sittlicher Normen kriminalisiert. Religiöse Konfessionen definierten sündhaftes und gottgefälliges Verhalten mit hohem Grad der Verbindlichkeit und drohten bei Verletzung von Geboten, Anstand, Sitte mit Höllenqualen und ewiger Verdammnis. Otto Dix verfügte fraglos über außergewöhnliche handwerkliche
Fähigkeiten, über die aber auch andere Künstler verfügten. Der Erfolg
von Otto Dix profitierte bis 1933 vermutlich von Provokationen und
Skandalen um seine Bilder. Im sozialen Klima dieser Zeit waren Bilder von Otto Dix mit Darstellungen von Sex & Crime sowie grotesk entstellten Lebenden und Toten eine ungeheure Provokation, die in der Gegenwart vom Till Lindemann und der Band Rammstein nicht erreicht wird. Lindemann und Rammstein nutzen eine ähnliche Strategie und zählen zu den erfolgreichsten Bands der Gegenwart. Ein Vergleich von Otto Dix mit Lindemann ist sicherlich mutig, aber Parallelen sind nicht zu übersehen, obwohl Lindemann aufgrund veränderter sozialer und politischer Bedingungen hochtouriger agiert.
Während Soldaten ihre
Lust zum Töten im Krieg ohne Legalitätsfragen hemmungslos ausleben
können, betreiben Schlachter ihre Lust am Töten in Städten als legales
Handwerk. Lustmörder radikalisieren in Städten ihren Sexualtrieb und
gehen ihrer Lust am Töten unverstellt illegal nach. Großstadt verstand Dix als ein kulturelles Konstrukt, in dessen Dickicht Krieg um Sex in mehr oder weniger verborgenen Nischen Fortsetzungen mit nicht absehbaren Konsequenzen ermöglicht.
Die Ausstellung Geschlechterkampf
des Frankfurter Städel griff 2017 die künstlerische Auseinandersetzung
der spannungsgeladenen Geschlechterbeziehung von Mitte des 19.
Jahrhunderts bis Ende des 2. Weltkriegs auf und zeigte, dass
insbesondere nach dem 1. Weltkrieg zahlreiche Künstler ihr Kriegstrauma mit
Darstellungen von Sexualmord, Gewalt und Prostitution bearbeiteten und
Otto Dix zu Protagonisten zählt, die mit Brutalität verübte
Serienmorde von Jack the Ripper, Fritz Haarmann, Peter Kürten als Inspirationsquelle nutzten (Die dunkle Seite von Kunst - Lustmord und Prostitution).
Verständlich wird die Verdichtung dieser Thematik als Auswirkung des 1. Weltkriegs, aus dem traumatisierte Soldaten als 'Verlierer'
zurückkehrten und auf Frauen trafen, die mit neuem
Rollenverständnis ihre sexuelle Attraktivität bewusst auslebten und Machtansprüche des traditionellen patriarchalischen Rollenverständnisses
in Krisen stürzten. Sexuelles Begehren durchsetzende
Lustmörder und männermordende Femme fatale bildeten für Dix die beiden
Seiten des Problems. Mit seinen Darstellungen vermittelt Dix zugleich seine Sicht der Brüchigkeit und Vordergründigkeit
kultureller Normen, denen es nicht gelingt, den primären
Geschlechtstrieb einzuhegen.
Hier eingefügte Fotos von Gemälden der Ausstellung sind im Zeitraum von 1920 bis 1932 entstandenen. Im Licht der beschriebenen Perspektive sind diese Bilder nicht als der Triebbefriedigung dienende Obszönitäten zu deuten. Die Bilder sind Statements eines von kulturellen Konventionen befreiten, Dix-spezifischen Verständnisses elementarer menschlicher Verhaltensweisen, die der Krieg aus kultureller Domestizierung entlässt. Ergebnisse dieses Prozesses sind geschundene, grotesk entstellte Körper und Seelen, die Dix in seinen Bildern darstellt. Überlegenheit einer arischen Rasse proklamierende NS-Ideologie, die diese Überlegenheit bei gleichzeitiger rassischer Höherentwicklung global durchzusetzen trachtete, reklamierte gegenüber der Kunst ideologische Unterstützung und förderte Künstler, von deren Arbeiten sie sich pädagogische Wirkung im Sinne von NS-Ideologie versprach. Vermeintlich beschädigte Menschenbilder konnte und wollte NS-Ideologie weder akzeptieren noch ignorieren und eliminierte sie daher im öffentlichen Raum.
Zahlreiche Werke von Otto Dix galten als 'entartet'. Sie wurden aus Museen entfernt und durften auch außerhalb von Museen nicht ausgestellt werden. Über die Beschlagnahme von Werken und Berufsverbot hinaus mussten vor allem kommunistische und jüdische Künstler mit Verfolgung und Ermordung rechnen und flüchteten daher in die Emigration, was jedoch nicht allen Künstlern gelang. Otto Dix kam dagegen relativ ungeschoren davon. Dix war kein Jude und vertrat keine explizite politische Haltung. Dix durfte zwar nicht mehr unterrichten und wurde zeitweilig schikaniert, aber er durfte weiter malen und auch ausstellen, jedoch nur solche Motive, die als ideologisch unverdächtig galten. In dieser fraglos komplexen Situation musste Otto Dix auf seinem persönlichen Weg zwischen Konfrontation und Anpassung neue Motive finden, die eine Fortsetzung seiner Existenz als Künstler ermöglichten ohne sich zu verbiegen.
Metaphorische Landschaftsdarstellungen (1935-1942)
Ina Jessen hat als Kunsthistorikerin die Dix-Ausstellung in den Deichtorhallen kuratiert. In ihrer Dissertation Otto Dix und der Nationalsozialismus vertritt Ina Jessen die Auffassung, dass der Wandlungsprozess von Motiven bei Dix keine Abkehr von zeitkritischen Kommentaren der Malerei
bedeutet, sondern Landschaftsbilder und religiöse Bilder als subtile Formen von
Zeitkritik aufzufassen sind, in die Dix seine ehemals subversive Gesellschaftskritik transformierte.
Auch ohne die Dissertation zu kennen, ist Jessens Sicht nachvollziehbar. Die Bilder machen deutlich, dass Dix keine freundliche oder besänftigend auf Stimmungen einwirkende Landschaften naturalistisch darstellen wollte. Im Zeitraum von 1935 bis 1942 entstandene und hier chronologisch aufgereihte Bilder vermitteln zunehmend bedrohlichere Szenen, die nicht um naturalistische Darstellungen bemüht sind, sondern aus sich steigernden apokalyptischen Phantasien entstanden zu sein scheinen, in denen Dix seine Auffassungen zeitkritischer Entwicklungen zum Ausdruck brachte.
Porträtbilder (1937-1940)
Während der NS-Zeit malte und zeichnete Dix eine Reihe von Porträts, bei denen es sich um Auftragsarbeiten handelte, die Dix ohne symbolische Überhöhungen zurückhaltend fertigte.
Darstellungen christlicher und vorchristlicher religiöser Motive (1937-1950)
Ab 1937 wandte sich Otto Dix religiösen Motiven zu, ohne in Verdacht von Altersfrömmigkeit zu geraten. Dix war fasziniert von spätmittelalterlichen Maltechniken der Lasurmalerei und besonders beeindruckt vom Isenheimer Altar, den Matthias Grünewald (1480-1530) von 1512 bis 1516 geschaffen hatte. (taz, 28.10.2016: Biblisches vom großen Realisten)
In der Gegenwart ist der Isenheimer Altar im Musée Unterlinden in Colmar ausgestellt. 2 Fotoserien eines Besuchs im Jahr 2019 vermitteln Eindrücke: Isenheimer Altar, Musée Unterlinden
Werner Tübke (1929-2004) verwendete ebenfalls mittelalterliche Maltechniken der Lasurmalerei. Vermutlich ist er aus diesem Grund in der Ausstellung mit seinem Bild Tod im Gebirge aus dem Jahr 1982 präsent (letztes Bild des parallelen Albums zeitgenössische Kunst). Über Tübkes Hauptwerk berichtet der Post Besuch des Panaromamuseums.
Vermutlich verstand Otto Dix Religion als mehr oder weniger (un-)taugliche kulturelle Strategie der Domestizierung von Triebhaftigkeit. Seine religiösen Bilder vermitteln keine Erwartungen oder auch nur Hoffnungen von Befreiung oder Erlösung, sondern zeigen vor allem apokalyptische Szenen, in denen die Versuchung und das Böse allgegenwärtig sind. Bildmotive changieren zwischen Endpunkten des Lebens, Geburt und Tod, zwischen denen Sex stattfindet, der den Kreislauf des Lebens als Motor antreibt. Im Unterschied zu Bildern der Weimarer Zeit vermeidet Dix explizite Darstellungen von Sex und bezeichnet ihn als Versuchung oder deutet ihn als Verkündigung.
In einem der Bilder stellte sich Dix 1943 auf einem Stier sitzend als Apostel Lukas dar, der die Madonna mit Kind malt. Hinter der vordergündig religiösen Deutungsebene befindet sich eine
Deutungsebene, mit der Dix seine Ansichten über Kreisläufe des Lebens
und die Bedeutung von Sex als Lebensmechanismus verschlüsselt darstellt.
Dix mal sich als Lukas, weil er sich mit der Symbolik des Stiers
identifiziert. Stiere sind in christlicher Ikonografie Symboltier des Apostels Lukas. Die Zuordnung ist wahrscheinlich aus babylonischer Mythologie übernommen, in der Stiere Marduk symbolisierten, der vom Stadtgott zum Hauptgott des babylonischen Pantheons aufstieg. In europäischer Mythologie symbolisieren Stiere Zeugungskraft und Fruchtbarkeit. In einer wahrscheinlich auf orientalische Ursprünge zurückgehenden Begebenheit griechische Mythologie verwandelte sich Zeus in einen Stier, um Europa, Tochter eines phönizischen Königs zu verführen und seine eifersüchtige Gattin Hera zu täuschen (Wikipedia: Europa).
Besonders auffällig ist in den drei letzten ausgestellten religiösen Bildern der Nachkriegszeit ein stilistischer Bruch in Form einer Abwendung von der Lasurmalerei und der Rückkehr zur Technik der Primamalerei im expressionistischen Malstil, den Dix in seiner Anfangszeit als Maler verwendete, aber seit ca. 1920 zugunsten eines realistischen Malstils verließ. Unklar bleibt, was Otto Dix zur Wiederaufnahme des expressionistischen Stils bewog.
Persönliches Fazit
Otto Dix war kein Geistes- oder Kulturwissenschaftler, sondern Maler. Als Maler verfügte er über Talent, handwerkliche Fähigkeiten und kreative Inspiration, aber nicht über Werkzeuge wissenschaftlicher Methoden, die ihm ermöglicht hätten, den eigenen kulturellen und zeitgeschichtlichen Bias zu erkennen. Vermutlich nahm Dix an, Tiefenstrukturen menschlicher Verhaltensmotive entschlüsselt zu haben und generalisierte seine individuellen Einsichten als vermeintlich universelle motivationale Handlungsstrukturen von Menschen. Dieser Bias entspricht alltagstheoretischer Denkweise und ist Dix daher nicht vorzuwerfen. Im Gegenteil macht dieser Bias verständlich, wie soziale und politische Bedingungen bzw. Strukturen jeweiliger Zeit Einfluss auf das Denken und Handeln von Menschen nehmen und sich mit individuellen Dispositionen mischen, durch die Dix eine sexuelle Obsession ausprägte, der er mit kreativer Potenz Ausdruck verlieh.
Mit Darstellungen von Gewalt und seiner individuell ausgeprägten sexuellen Obsession nahm Otto Dix Entwicklungen sozialer Normen vorweg, die sich mittlerweile im sozialen Leben als Normalität ausgebreitet haben. Libertäre Sexualität ist heute Alltag. Zahlreiche aktuelle globale Kriegsszenarien und sich anscheinend immer stärker ausprägende Emotionen von Hass im Zusammenleben von Menschen lassen befürchten, dass auch Gewalt in Normalität des Alltags mündet. Über ein historisches Verständnis hinaus stellen diese Szenarien das Werk von Otto Dix in ein Licht bedrückender Aktualität.
Unstrittig ist soziale Relevanz von in Kunst dargestellter unterdrückter oder libertärer Sexualität sowie Formen von Gewalt in Phantasie und Realität. Unstrittig ist ebenfalls, dass diese Phänome als Ausprägungen von Regulierungen des menschlichen Triebhaushalts aufzufassen sind. Zusammenhänge und Interdependenzen zwischen Emotionen und Affekten einerseits mit Mustern sozialer Kontrolle andererseits sind offensichtlich. An weltanschaulichen Erklärungen von Zusammenhängen besteht kein Mangel, aber dogmatische Weltanschauungen erklären nichts, sondern behaupten nur. Im wissenschaftlichen Lager versuchen sich Vertreter psychoanalytischer Konzepte (Sigmund Freud, Wilhelm Reich, Klaus Theweleit etc.) an Erklärungen, aber ihre narrativen Deutungsmuster vermitteln lediglich mehr oder weniger Plausibilität, die empirischen Überprüfungen gemäß Methoden wissenschaftlicher Erklärung nicht standhalten. (Deutschlandfunk: Klaus Theweleit: „Männerphantasien“ - Grausame Männer- Wie kurz ist der Weg vom Wort zur Gewalt?) Empirischer Prüfbarkeit verpflichtete Wissenschaftler arbeiten sich an Erklärungen dieser Zusammenhänge bisher relativ erfolglos ab, weil Gaps zwischen sozialen Strukturen auf der einen Seite sowie kognitive Strukturen und ihre neuronalen Korrelate auf der anderen Seite bisher nicht überwindbar sind.
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