Sonntag, 23. Juni 2024

Kunst gehört allen! Eröffnung des Museums Reinhard Ernst (mre) für abstrakte Kunst mit der Ausstellung "Farbe ist alles!"

Eingang zum Museum Reinhard Ernst an der Wilhelmstraße Katharina Grosse: Ein Glas Wasser, bitte (Glasarbeit im Foyer) Mehrteiliges Werk "Formation Stream" des japanischen Künstlers Toshimitsu Imai
 
Nach fünfjähriger Bauzeit eröffnet das mit mehr als 80 Millionen Euro Baukosten errichtete Museum Reinhard Ernst für moderne Kunst in Wiesbaden (FAZ: Ein Palast für die Kunst) erstmals seine Türen für ein öffentliches Publikum im Rahmen eines Tags der offenen Tür mit freiem Eintritt. (Die reguläre Eröffnung ist am 25.06.2024.) Um zu erwartenden Ansturm zu regeln, werden Zeittickets vergeben, die Besucher per E-Mail anfragen müssen. Das machen wir und erhalten 2 Zeittickets für 12:15 Uhr. - Webseite Museum Reinhard Ernst (mre) - Eigene Fotoserie des Besuchs - Medienberichte:
 
Anmerkungen zur Biographie des Stifters - Der Millionär, der Wiesbaden ein Museum schenkt
 
Der Unternehmer Reinhard Ernst managte erfolgreich zwei Unternehmen des Getriebebaus, aber zu Kunst und Literatur hatte er zunächst keine Einstellung. Weil ihm auf Geschäftsreisen sonntags oft langweilig war, begann er vor ca. 40 Jahren Museen zu besuchen und entdeckte eine ihn faszinierende neue Welt der abstrakten Malerei. Zunächst ohne tieferes kunsthistorisches Vorwissen betrachtete er Werke gemäß dem Motto von Frank Stella "What you see is what you see!" und ließ Bildkompositionen und Farben auf sich einwirken. Reinhard Ernst war begeistert und wurde Kunstsammler. Kunstexpertise eignete er sich erst allmählich an. Bis heute hat er ca. 1000 Arbeiten erworben, von denen ca. 600 als museumswürdig gelten. 
 
In der Zwischenzeit hat Reinhard Ernst seine Unternehmensanteile verkauft und große Teile des erwirtschafteten privaten Vermögens in die Reinhard & Sonja Ernst-Stiftung eingebracht, die bereits zwei Projekte förderte. Um die private Kunstsammlung mit der Öffentlichkeit teilen zu können, entschlossen sich die Stifter zum Bau eines Museums in Wiesbaden, dessen Bau- und Betriebskosten die Stiftung trägt. Die Stadt Wiesbaden stellt mit einer vertraglich abgesicherten symbolischen Pachtsumme ein innenstadtnahes als Parkplatz genutztes Grundstück zur Verfügung. 
 
Ein großes Anliegen der Stifter ist eine möglichst barrierefreie Heranführung der jungen Generation an moderne Kunst, weshalb sie mit dem Konzept des Museums eine spezielle Ausrichtung auf Kinder und Jugendliche realisiert haben, was sicherlich auch Erwachsenen entgegenkommt, die sich von Kindern gestört fühlen. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren haben generell freien Eintritt. Vormittage sind für Besuche von Schulkassen reserviert. Darüber hinaus bietet das Museum besondere Angebote für Kinder und Familien. Erwähnenswert ist ein von den Stiftern als Herzstück des Museums verstandenes digitales Farblabor, in dem Kinder an verschiedenen Versuchsstationen selbst kreativ werden können. Samstags dürfen alle Besucher im Farblabor 'spielen'.


Anmerkungen zur Museumsarchitektur

Front des Museums Reinhard Ernst an der Wilhelmstraße Foyer im Museum Reinhard Ernst Lichthof mit Skulptur "Buscando la luz III" von Eduardo Chillida (1924–2002) Leitplanken von Bettina Pousttchi (Vertical Highways – Progressions 4) im Foyer Foyer mit "Vertical Highways – Progressions 4" von Bettina Pousttchi, Lichthof mit Skulptur "Buscando la luz III" von Eduardo Chillida (1924–2002) Waschraum der Herrentoilette Von Karl-Martin Hartmann gestaltetes Fenster des Museums Reinhard Ernst Bernard Schultze (1915–2005), Kraken-Migof, 1992 Fenster des Museums Reinhard Ernst

Dank Affinität zu japanischer Kultur konnte Reinhard Ernst als Architekten den renommierten japanischen Pritzker-Preisträger Fumihiko Maki gewinnen, der bei Beginn des Baus bereits 90 Jahre alt war und 14 Tage vor Eröffnung des Museums im Alter von 95 Jahren verstarb. - Nachruf der FAZ vom 13.06.2024: Antrieb zur Erkundung 
 
Das Museumsgebäude besteht aus vier über drei Etagen reichende weiße Kuben, deren Außenflächen mit 6000 qm weißem Granit des im US-Bundesstaat abgebauten Typs Bethel White verkleidet sind, weshalb das Gebäude in Wiesbaden nicht geringschätzig, sondern liebenswert als Zuckerwürfel bezeichnet wird. Das Zentrum der Kuben bildet ein als Zengarten gestalteter Lichthof, in dem die Skulptur "Buscando la luz III" (Suche nach dem Licht) des baskischen Bildhauers Eduardo Chillida (1924–2002) und ein japanischer Fächerahornbaum als Metaphern für Rätselhaftigkeit des Lebens und zur Kontemplation über das Streben nach harmonischer Einheit anregen. Diese Verbindung ist sicherlich kein Zufall. Fumihiko Maki und Eduardo Chillida waren befreundet und Fumihiko Maki hat Reinhard Ernst auf Eduardo Chillida aufmerksam gemacht.
 
9 unterschiedlich große und hohe Ausstellungsräume mit insgesamt 2.500 qm Ausstellungsfläche bilden keine relativ geschlossenen Kabinette. Wanddurchbrüche geben Blicke auf den zentralen Lichthof und in Ausstellungsräume frei. Der Rundgang durch das Gebäude vermittelt Anmutungen von Vernetzung zwischen zugleich geschlossenen wie offenen Räumen. Fensternischen zwischen den Kuben sind jeweils als Kunstwerke oder mit Kunstwerken gestaltet. Dank raffinierter Architektur konnten Ausstellungsräumen ohne sichtbare tragende Säulen realisiert werden. Mit Akustikputz verkleidete Wandflächen verhindern auch bei zahlreichen Besuchern eine störende Geräuschkulisse. Auf Bodenflächen, Treppen und selbst in Toilettenräumen sind edelste Materialien verarbeitet. In Übergangszonen des Gebäudes stellen große Blumenbouquets metaphorische Nähe zwischen Kunst, Natur und sie verbindende geistige Haltungen her. - FAZ: Das neue Museum Ernst in Wiesbaden ist ein Meisterwerk
 
 
Warten auf Einlass
 
Bei Ankunft am Museum erschreckt zunächst eine längere Besucherschlange, aber zu Unrecht. Für Deutschland unüblich, warten Besucher geduldig und nicht länger als angekündigt auf das Zeitfenster ihrer Einlasszeit, während zwei als Roboter verkleidete Personen in verspiegelten Kostümen Wartende mit maschinenartigen Bewegungen bespaßen. Zwei weitere kräftige junge Männer tragen auf dem Rücken schwere Vorrichtungen mit Wassercontainern und bieten Becher mit Wasser an. Das Angebot wird bei dem warmen Wetter begrüßt. Dass es sich zugleich auf ein Kunstobjekt im Foyer bezieht, erkennen wir erst nach dem Einlass. Als Kölner sind wir keine Exoten. Von anderen wartenden Besuchern hören wir, dass sie für dieses Ereignis aus München angereist sind.
 
 
Erste Eindrücke
 
Pünktlich um 12:15 Uhr leiten ausgesprochen freundlich gestimmte Mitarbeiter unsere Zeitfenstergruppe in das Museum. Das Museum lädt Besucher ein, Kunst als Feier von Lebenskunst zu begreifen und begrüßt Besucher mit der programmatischen Aussage: "Dieses Gebäude gehört der Kunst, und die Kunst gehört allen." Im Foyer verbreitet sich eine schwer beschreibbare feierlicher Anmutung, die Assoziationen einer modern transformierten gotischen Kathedrale weckt. Dieser Effekt ist sicherlich kein Zufall, sondern beabsichtigt. Objekte des Foyers sind überwiegend für das Museum unter Berücksichtigung von dessen Architektur entstanden und fügen sich zum tempelartigen Eindruck eines Schatzhauses. Etliche der internationalen Besucher scheinen ähnliche Emotionen zu empfinden und fotografieren sich gegenseitig oder als Selfie, um der Flüchtigkeit des Moments zu begegnen. 
 
Lichthof mit Skulptur "Buscando la luz III" von Eduardo Chillida (1924–2002) Besucherinnen im Museum Reinhard Ernst Tony Cragg (*1949), Pair, 2019

Beim Betreten des Museums zieht der Lichthof Blicke von Besuchern wie magisch an. Ein weiterer Eye-Catcher ist eine von Katharina Grosse (*1961) gestaltete halbtransparente bunte Glaswand mit dem Titel "Ein Glas Wasser, bitte!" (Auftaktbild oben Mitte), das etliche Besucher als Wartende bereits erhalten haben. Das Objekt ist auf der Museumsseite unter Kunst im Foyer beschrieben. 
 
In einer Nische des Erdgeschosses sammeln sich zahlreiche Besucher an der Bronzeskulptur Pair, die der in Wuppertal lebende britische Bildhauer Tony Cragg für das Museum Reinhard Ernst geschaffen hat. An der Herstellung des Objekts haben neben Tony Cragg und seinen Assistenten mehrere Gewerke ca. ein Jahr gearbeitet. Nach seiner Vollendung trat das Werk eine komplizierte Reise an, der eine noch kompliziertere Aufstellung folgte. Die Aufstellung der sechs Meter hohen und jeweils 3 Tonnen schweren Bronzeskulpturen bildeten besondere Herausforderungen. Weil die Skulpturen in einem geschlossenen Gebäude nicht transportabel sind, wurden sie bereits 2021 angeliefert und im Rohbau des Museums aufgestellt. Den Vorgang dokumentiert die Museumsseite mit Videos: Tony-Cragg-Skulptur für das Museum Reinhard Ernst. Ähnlich erging es der 9 Tonnen schweren Skulptur von Eduardo Chillida, die ebenfalls bereits im Rohbau des Museums angeliefert und im Lichthof aufgestellt wurde. Über diese Aktion berichtet ein weiteres Video: Eduardo Chillida – Eine Skulptur reist nach Wiesbaden
 
Die Betrachtung der Videos lässt Aufwand erahnen, den naive Vorstellungen von Kosten der Anlieferung und Aufstellung nicht abzuschätzen vermögen. Für den praktischen Alltag scheinbar nutzlose Bemühungen rechtfertigt Kunst als sinnstiftendes Element des sozialen Lebens. Dass es möglich ist, Projekte dieser Größenordnung und Komplexität privatwirtschaftlich erfolgreich zu organisieren, macht defizitäre Projekte des öffentlich Raums umso suspekter und ist vermutlich dem Sachverhalt geschuldet, dass private Auftraggeber Rechnungen selbst zahlen, während Rechnungen öffentlicher Projekte aus der Steuerkasse beglichen werden und zur Tragik der Allemende beitragen.


Rundgang

Die aktuelle Ausstellung mit dem Titel "Farbe ist alles!", zeigt eine Auswahl von 60 Werken der Sammlung, von denen 5 Arbeiten erst für dieses Museum geschaffen wurden. Die meisten der präsentierten Arbeiten sind großformatig und generell großzügig mit viel Zwischenraum in thematisch gegliederten Ausstellungsräumen gehängt. Dieses Konzept bringt ausgestellte Werke stark zur Geltung und verhindert, dass sie betrachtende Besucher verbergen.
 
Fred Thieler (1916–1999), Klappbild, ungleich, 1965 Karl Fred Dahmen (1917–1981), Große Zeichenwand/Helle Komposition, 1960 Georges Mathieu (1921–2012), La Mort du Connétable de Bourbon, 1959 Hans Hartung, „T 1971-H15“, 1971 Karl Otto Götz (1914–2017), Brien-Elven, 1957 Ernst Wilhelm Nay (1902–1968), Chromatische Scheiben, 1960 Thomas Scheibitz (*1968) 101–2002, 2002 Josef Albers, Homage to the Square Robert Motherwell (1915–1991), Arabesque, 1989 Helen Frankenthaler (1928–2011), Spanning, 1971 Helen Frankenthaler (1928–2011), Regatta, 1986 Helen Frankenthaler (1928–2011), Pyramid, 1988 Morris Louis (1912–1962), Gamma Epsilon, 1960/61 Friedel Dzubas (1915–1994) Argonaut, 1983 Mehrteiliges Werk "Formation Stream" des japanischen Künstlers Toshimitsu Imai
 
Arbeiten der Sammlung sind als Informel im Sinne ungegenständlicher Malerei einzuordnen. Schwerpunkte der Sammlung reichen vom amerikanisch geprägtem abstraktem Expressionismus und seiner europäischen Version des Tachismus über eher kontemplative Farbfeldmalerei (Color Field Painting) und Arbeiten der ZERO-Gruppe bis zu Street Art und zu radikalen konkreten Werken des Action Paintings, das vor allem Bilder der japanischen Gutai-Gruppe repräsentiert. Dieser Post verzichtet auf Kommentierungen einzelner Arbeiten, von denen jede für sich spricht, keine Bedeutungen vorgibt und Rezipienten individuelle Freiheit der Betrachtung überlässt.

 
Sonderausstellung 23.06.2024-09.02.2025
 
Sonderausstellung Fumihiko Maki und Maki & Associates: Für eine menschliche ArchitekturEin großer Raum ist wechselnden Sonderausstellungen vorbehalten. Die aktuelle Sonderausstellung Fumihiko Maki und Maki & Associates: Für eine menschliche Architektur ist dem japanischen Architekten des Museums gewidmet und zeigt etliche Modelle seiner herausragenden weltweiten Projekte, zu denen 10 Museumsbauten zählen. Fumihiko Maki und Reinhard Ernst waren befreundet und konzipierten gemeinsam das Museum als Gesamtkunstwerk. Die Ausstellung vermittelt über Kulturen hinweg verbindende künstlerische und ethische Leitgedanken der beiden.
 
 
 
 
Bleibende Eindrücke auch ohne Museumsgastronomie 

Im Museumskomplex ist selbstverständlich eine Gastronomie vorgesehen, das Restaurant rue 1 by gollner’s. Das Restaurant kann unabhängig von Öffnungszeiten und Aktivitäten des Museums besucht werden. Als Abschluss dieses besonderen Tages wären wir gerne in dem Restaurant eingekehrt, es eröffnet jedoch erst am 25.06.2024. Wir hätten das wissen können, wenn wir die Museumsseite aufmerksamer gelesen hätten. Unsere Enttäuschung über die geschlossene Gastronomie ist nur klein. Viel stärker wirken Eindrücke eines besonderen Tages von einem Museum nach unserem Geschmack nach, dessen stimmige konzeptionelle Einheit von Architektur und Kunst wir als Bereicherung einer über Deutschland hinausweisenden Museumslandschaft werten. An die Eröffnung werden wir sicherlich noch oft denken, aber wir möchten das Museum auch bald wieder besuchen und uns außerhalb des Eröffnungstrubels intensiver mit ihm befassen. 
 
 
Rahmenprogramm
 
Ingesamt 4-5 Stunden Fahrzeit per Auto wollen wir nicht allein für einen Museumsbesuch aufwenden und unternehmen eine Wochenendreise mit Übernachtung und Aktivitäten im Rheingau, über die der Post Kurzreise in den Rheingau berichtet.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen