Montag, 13. Juni 2011

Adolf Wölflis Reise aus der Ohnmacht in die Allmacht, Ausstellung in Ingelheim (2011)

Das Skt. Adolf-Roosali von Skt. Adolf-Wald, 1920
Adolf Wölfli (1864-1930)
"Ich kann meinem Gott nicht dienen!
Ist zu weit entfernt von mihr.
Reittet stehts auf andern Schienen!
Zischt und geifert, wie ein Thier."

"Natuhrvorscher, Dichter, Schreiber, Zeichner, Componist, Landarbeitter, Melker, Handlanger, Gäärtner, Gipser, Zementter, Bahn-Arbeitter, Taglöhner, Scheeren-Schleiffer, Fischer, Schiffer, Jäger, Welsch-Heurer, Tohtten-Gräber und Soldat des Emmenthaler Battaillons 3. Kompanie, 3. Sektion. Ebjä!!'' "Skt.Adolf II., Allgebratohr, Oberst Fäld-Heer und Musik-Diräktohr, Riesen-Theaat'r-Diräktohr, Allmacht-Riesen-Dampfer-Kappitain und Dr. der Kunst und Wissenschaft, Diräktohr der Allgebra und Geographie-Hefter-Fabrikatiion und Jäger-General. Erfinder von 160 sälbstgemachten, hochwärtvollen und jeh vom russischen Zaar patentiertten Erfindungen und jeh, der gloreiche Sieger von zahlreichen gewalltigen Risen-Schlachten."

Als Mensch, der in seinem Leben nie Liebe erfahren hat, bearbeitet der als schizophren geltende Adolf Wölfli in verzweifelter Einsamkeit unter Obhut einer psychiatrischen Anstalt seine Trauer. Auf Basis göttlicher Aufträge entfaltet Adolf Wölfli eine geradezu unglaubliche Kreativität, die eine neue Weltordnung in einem eigenen Kosmos erschafft und das Chaos seiner Lebenswelt bändigt.

Im Zeitraum von Wölflis Anstaltsaufenthalt beginnen sich erste Vorstellungen über kognitive Tiefenstrukturen zu entwickeln, die uns als "Unbewußtes" dominieren, weil sie außerhalb unserer eigenen Kontrolle liegen. Während sich diese Einsichten nur langsam und zunächst gegen Widerstand ausbreiten, berichtet Rainer Maria Rilke bereits 1921 in einem Brief an Lou Andreas-Salomé tief beeindruckt über den "Fall Wölfli", von dem sich Rilke neue Erkenntnisse über kreative Prozesse erwartet. Unter dem Eindruck von Wölflis Arbeiten erkannten Jean Dubuffet und André Breton "Art Brut" als eine eigenständige Kunstrichtung und stellten im Jahr 1948 in Paris 120 Zeichnungen Wölflis in der "Compagnie de l'Art Brut" in Paris aus. 1972 zeigt Harald Szeemann in der "documenta 5" Wölflis Werk im Kontext internationaler Kunst. Zeitgenössische Komponisten widmen Adolf Wölfli etliche Werke. Seit 1975 befindet sich Wölflis Werk mit 1.460 Zeichnungen, 1.560 Collagen und 25.000 Seiten Dichtung in der Adolf Wölfli Stiftung des Kunstmuseums von Bern. Einzelne Blätter bietet der Kunsthandel zu Preisen von 20.000 - 100.000 SFR im Markt an.

Die Veranstaltung der "Internationalen Tage von Ingelheim" zeigt im Zeitraum 1.05.-10.07.2011 im ehemaligen Rathaus von Nieder-Ingelheim in einer Ausstellung Auszüge des Werkes Adolf Wölflis. Am 13.06.2011 ergibt sich die Gelegenheit zum Besuch dieser Ausstellung. Auch wir sind tief beeindruckt. Die Grenzen zwischen Äußerem und Innerem, Bewußtem und Unbewußtem scheinen aufgehoben zu sein. Während wir uns auf kulturell tradierte Konventionen stützen können, die unseren sozialen Konstrukten eine vermeintliche Sicherheit verleihen, fehlt dem sozial emmitierten Wölfli diese lebensnotwendige Sicherheit. Wölfli erfindet seine Welt neu und konfrontiert uns mit der Variante seiner Weltsichten und Weltdeutungen, die er mit Niemandem jenseits seiner Welt teilt.
Interessierten sei die sehr informative Webseite der Adolf-Wölfli-Stiftung des Kunstmuseums Bern empfohlen, aus der hier auszugsweise zitiert wird: www.adolfwoelfli.ch


1908-1913 "Von der Wiege bis zum Graab"
(rund 3000 Seiten Papier)

"Oder, Durch arbeiten und schwitzen, leiden und Drangsal, bettend zum Fluch. Manigfalltige Reisen, Abenteuer, Un=glücks=Fälle, Jagten, und sonstige Erlebnisse eines verirrten, auf dem gantzen Erdball herum. Oder, Ein Diener Gotes, ohne Kopf, ist ärmer als der ärmste Tropf."
 
Adolf Wölfli verarbeitet seine Kindheit, indem er in seinem bildnerischen und erzählerischen Werk "Von der Wiege bis zum Grab" drei große Reisen einer imaginären Lebensgeschichte mit einer glorreichen Kindheit erfindet:
  1. Auswanderung der Familie Wölfli nach Amerika,
  2. Abenteuerreise durch verschiedene Erdteile der Welt
  3. Kosmische Reise durch die Milchstraße, wo Wölfli 50 Sterne aufkauft, sowie mit der 500 Mitglieder umfassende Reisegruppe der "Gott-Vatter-Riesen-Reise-Avantt-Garde" den "Werrant Santta-Maria-Steern" besucht, auf dem Wölfli den "Skt. Adolf-Ehebund-Ring" mit 222 Gemahlinnen errichtet
Im Verlauf seiner Reisen verwandelt sich Wölfli vom "Doufi" (Diminutiv von Adolf) zum "heil. Skt. Adolf, Gross-Gross-Gott".






1912-1916 "Geographische und Allgebräische Hefte"
(rund 3000 Seiten Papier)


Nachdem Adolf Wölfli in den Arbeiten "Von der Wiege bis zum Graab" seine Vergangenheit neu geordnet hat, wendet er sich der Zukunft zu. Aus einem fiktiven Vermögen kauft er die auf seiner Reise erkundeten Länder und Erdteile auf. Er gründet die "Skt. Adolf-Riesen-Schöpfung", bereist den Kosmos, vermisst und inventarisiert das Universum. Wölfli erweitert das Zahlensystem um neue Einheiten, weil das bestehende Zahlensystem den gigantischen Dimensionen seiner Welt nicht gerecht wird. Zahlenbilder und Notenbilder eines eigenen Notensystems symbolisieren als Metapher Größe, Macht und Schönheit seiner Weltschöpfung.




























 







1917-1922: "Hefte mit Liedern und Tänzen"
(rund 7000 Seiten Papier)

Wölfli feiert seine Schöpfung mit Kompositionen, die sich collageartig in verschachtelte Tänze gliedern. Wölfli entwickelt ein eigenes Notensystem, das sich von Dritten nicht rational entschlüsseln lässt. Abbildungen aus Zeitschriften setzt Wölfli zu Bildcollagen zusammen, die für ihn bedeutende Motive seiner Welt symbolisieren und seine Kompositionen ergänzen. 


1924-1928: "Allbumm-Hefte mit Liedern und Märschen"
(rund 5000 Seiten Papier)

In den "Allbumm-Heften" entwickelt Wölfi auf Basis der in den "Hefte(n) mit Liedern und Tänzen" begonnenen Kompositionstechniken neue und komplexere Strukturprinzipien, mittels der er Spannungsbögen aufbaut.


1928-1930 "Trauer-Marsch" (rund 8300 Seiten Papier)

Daniel Baumann stellt in dem Katalog zur Ausstellung in Ingelsheim fest, dass der "Trauer-Marsch" im Kern "in seiner radikalen Reduktion und Abstraktionen ein unfassbares Konstrukt (bleibt): ein endloses Wiegenlied, ein rhythmisches Laut-Requiem und ein Text mit hypnotischer Wirkung. Dabei lassen sich drei Ebenen oder "Bewegungen" festhalten:
- das Abzählen der Seiten und Lieder,
- die auf Laut und Rhythmus beruhenden abstrakten Gedichte und 

- die aus Collagen bestehende Bildebene."

Daniel Baumann erläutert, dass Bilder scheinbar einen Kontakt zur Außenwelt herstellen. "Diese Kontaktaufnahme ist jedoch nur scheinbar, denn die Welt draußen dient ihm nur dazu, die Innenwelt zu illustrieren. Sie ist ihm gewissermaßen Fiktion, während die Innenwelt Realität ist - oder er hat sie Realität werden lassen. So dreht sich der Trauer-Marsch entlang von Lautreihen, Rhythmen und Bildfolgen wie ein(e) Spirale sogartig hoch; es ist ein unheimliches Lamento, ein unweigerliches Abzählen, das möglichst lange und diszipliniert den Abschied hinauszögert - und bewusst macht."

Die Bewertung von Außenwelt und Innenwelt als Realität oder Fiktion richtet den Blick auf spannende Fragen, die auf vermeintlich plausbile Antworten verweisen, aber bei genauer Betrachtung nicht entscheidbar sind. Realität von Außenwelt beruht auf Konsens über soziale Konstrukte in kulterellen Kontexten, die nur darum nicht als Fiktion gelten, weil sie innerhalb von Kulturen als Realität gelten. Wöfli lebt außerhalb einer kulturellen Realität und blickt aus dieser Sicht möglicherweise schärfer auf den Dissenz von Außenwelt und Innenwelt.

Am 6. November 1930 stirbt Adolf Wölfli an Magenkrebs.



Auszüge der Biographie Adolf Wölflis
Adolf Wölfli wächst als das jüngste von sieben Kindern in äußerst ärmlichen Verhältnissen auf. Der Vater ist Trinker und verlässt die Familie 1870. Die Mutter arbeitet als Wäscherin, erkrankt 1872 und stirbt 1873. Bis 1879 arbeitet und lebt Wölfli als Verdingkind (siehe unten) unter extrem schweren und entwürdigenden Bedingungen bei verschiedenen Bauernfamilien.

1880-1890 arbeitet Wölfli als Knecht. Wegen versuchter Notzucht an Mädchen wird Wölfli 1890 zu 2 Jahren Zuchthaus verurteilt. Wölfli vereinsamt zunehmend und wird 1895 wegen eines Sexualdeliktes erneut verhaftet. Eine Untersuchung seiner Zurechnungsfähigkeit diagnostiziert als Ergebnis "Schizophrenie". Wölfli bleibt bis zu seinem Tod 1930 in der Irrenanstalt von Waldau interniert.

Als Insasse der Irrenanstalt beginnt Wölfli 1899 zu zeichnen. 1907 wird Walter Morgenthaler Wölflis Psychiater. Während die dominierende Schulmeinung Geisteskrankheit ausschließlich als destruktives Geschehen ohne schöpferisches Potential versteht, erkennt Morgenthaler die außergewöhnliche Kreativität Wölflis und fördert ihn. 1921 veröffentlicht Morgenthaler die Monographie "Ein Geisteskranker als Künstler (Adolf Wölfli)". Die psychiatrische Fachwelt reagiert auf die Identifizierung Wölflis als Künstler ablehnend-irritiert. Die Veröffentlichung erregt in Kulturkreisen und unter Intellektuellen weltweites Aufsehen und macht Adolf Wölfli bekannt.
In der Anstalt arbeit Adolf Wölfli mit hoher Intensität an seinem Werk. Wölfli lebt relativ isoliert, spricht häufig mit seinen Stimmen und verlässt nur selten seine Zelle. Er wird als launisch, reizbar, jähzornig und gewalttätig beschrieben. Wölfli wird sich seines Künstlertums zunehmend bewusst und bezieht aus seinem Künstlerstatus ein übersteigertes Selbstbewußtsein. Im Kontext der kreativen Prozesse verwandelt sich über die Zeit die ursprünglich empfunde Ohnmacht in ein Gefühl der Allmacht. Der Umgang mit Wölfli wird immer schwieriger. Wölfli ist in einer anderen Welt angekommen, im Wölfli-Universum.

'Verdingkinder', meistens Waisen- und Scheidungskinder, wurden zwischen 1800 und 1950 von Behörden den Eltern weggenommen und bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts oft auf einem Verdingmarkt an Interessierte öffentlich versteigert. Den Zuspruch bekam jene Familie, welche am wenigsten Kostgeld verlangte. In einigen politischen Gemeinden soll diese Praxis noch nach 1950 üblich gewesen sein. Betroffene beschreiben, dass sie auf solchen Märkten "wie Vieh abgetastet wurden". In anderen Gemeinden wurden sie wohlhabenderen Familien durch Losentscheid zugeteilt. Zugeloste Familien wurden gezwungen, solche Kinder aufzunehmen, auch wenn sie eigentlich gar keine wollten. Sie wurden meistens auf Bauernhöfen wie Leibeigene für Zwangsarbeit eingesetzt, meist ohne Lohn und Taschengeld. Nach Augenzeugenberichten von Verdingkindern wurden sie häufig ausgebeutet, erniedrigt oder gar vergewaltigt. Einige fanden dabei den Tod.

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