Freitag, 17. Juni 2011

"The Tree of Life" - Verstörendes Meisterwerk von Terrence Malick (Update 29.12.2023)

Kinos besuchen wir selten und nur dann, wenn Filme subjektive Relevanz erwarten lassen. Meistens wissen wir Besseres zu tun, als aus Langeweile Kinos zu besuchen. Nach Wong Kar-Wais Film "2046" im Jahr 2004 motivierte uns erst nach 7 Jahren freiwilliger Abstinenz wieder Terrence Malick mit seinem gewaltigen Werk "The Tree of Life" zum Kinobesuch. Soviel vorweg: "The Tree of Life" polarisiert und lässt niemanden kalt. Bereits in Cannes, wo der Film 2011 mit der Goldenen Palme der 64. Filmfestspiele ausgezeichnet wird, vermengen sich in der Vorstellung Applaus und Buhrufe. Nach der Premiere bringen Stimmen ihre Enttäuschung zum Ausdruck, weil der Film vermeintlich an seinem Anspruch scheitert. Spekulieren lässt sich über die Frage, ob Terrence Malicks Film die "Goldene Palme" erhalten hätte, wenn "Melancholia" nicht an Lars von Triers verbalen Entgleisungen gescheitert wäre. 

Ein derart anspruchsvoller, bedeutungsschwangerer und gleichzeitig handlungsarmer Film wie "The Tree of Life" spricht kein Massenpublikum an. Bezeichnenderweise zeigen zumindest in Köln ausschließlich Programmkinos den Film. Die Vorstellung um 17:15 Uhr war lediglich von ca. 25 "Best Agern" der Generation 50plus besucht. Auf die nachfolgende Vorstellung wartete ein etwas zahlreicheres Publikum der gleichen Altersklasse. Selbstverständlich haben diese Beobachtungen keine repräsentative Bedeutung und sollen keineswegs von einem Besuch abschrecken. Im Gegenteil, wer Ingmar Bergmanns "Das siebente Siegel" (1957) oder Stanley Kubricks "2001: Odyssee im Weltraum" (1968) als filmische Meisterwerke wertet, für den ist "The Tree of Life" ein "must do". Er/sie wird diesen Film mehr als lieben, nämlich überwältigt sein von diesem Filmkunstwerk. Wie bei Bergmann und Kubrick geht es auch bei Malick um nicht weniger als um die großen Fragen nach der Essenz des Lebens, der Existenz Gottes und dessen Einfluss auf das Leben sowie schließlich auch um angemessene Haltungen gegenüber Antworten auf diese Fragen.

Malick steigt mit "The Tree of Life" nicht in den Sumpf des Lebens und den von Dramen, Liebe, Wahnsinn überquellenden Dreiecksgeschichten der Filmgeschichte. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb verstört "The Tree of Life" ähnlich gewaltig und beeindruckend wie Kubricks "2001". Eine Verwandtschaft zwischen den beiden Filmen ist nicht zu übersehen und dürfte auch nicht auf Zufall beruhen. 
  • Das beginnt bereits beim Produktionsaufwand. Kubrick hat 3-4 Jahre für die Produktion von "2001" benötigt, das Budget um 75 % und den Fertigstellungstermin um 16 Monate überzogen. Über Rahmenbedingungen von "The Tree of Life" ist wenig bekannt, weil Malick über mehr Produktionsfreiheit verfügte als sie Kubrick hatte. Immerhin hat sich die Produktion über einen Zeitraum von 6 Jahren erstreckt, von denen Malick 3 Jahre im Schneideraum zugebracht haben soll. 
  • An der Umsetzung von filmischen Spezialeffekten für "The Tree of Life" hat Douglas Trumbull mitgewirkt, Special Effects Supervisor des Films "2001".
  • Beide Filme bieten Bilder von betörender Schönheit und sprechen starke Emotionen an, verstärkt von eindrucksvoller Musik. Kubrick verwendete für den Soundtrack von "2001" Musik von György Ligeti, Richard Strauss, Johann Strauss, Aram Chatschaturjan. Alexandre Desplat nutzte für seine Komposition des Soundtracks von "The Tree of Life" Elemente aus Kompositionen von Hector Berlioz, Friedrich Smetana, Johannes Brahms, Modest Mussorgski und nicht zuletzt von György Ligeti
  • Kubricks große Rückblende setzt beim Erwachen menschlicher Kulturgeschichte ein, deren Ursprünge Kubrick zunächst im nackten Kampf um das Überleben ansiedelt, um dann mit einem brutalen Schnitt die Handlung des Films in eine Zukunft zu katapultieren, in der die Qualität des Existenzkampfes kosmische Dimensionen erreicht. Auf den brutalen Schnitt verzichtet auch Malick nicht. Nach einer ergreifenden brieflichen Nachricht über den Tod eines Menschen deutet in der nächsten Szene im Garten des Hauses das Pflanzen eines Baumes eine Versöhnung zwischen Tod und Leben an. Es folgen Bilder des Urknalls. Das erwachende Leben auf der Erde endet mit dem Einschlag eines Meteors, der das Leben auf der Erde schlagartig verändert und ein biologisches Fenster für die Entstehung menschlichen Lebens öffnet. Diese Szenen beenden abrupt donnernde Motoren von Flugzeugen, die auf einem Rollfeld für einen Kriegseinsatz vorbereitet werden. 
  • Beide Filme münden gegen Ende in Sequenzen, die nicht übersehbare Paralellen zeigen. In "2001" stürzt der Astronaut Bowman durch Raum und Zeit und halluziniert transzendentale Visionen, in denen sich Geburt und Tod mit Ende und Neubeginn von Raum und Zeit überlagern. "The Tree of Life" endet ebenfalls mit Traum- und Jenseitserfahrungen. Jack, ältester der drei Söhne der O'Brians, tritt durch einen Türrahmen in eine Salzwüste und begegnet in halluzinatorischen Visionen Mutter, Vater, dem verstorbenen Bruder und weiteren bedeutenden Menschen seines Lebens, ehe der Film mit psychedelischen Lichtorgien in bizarren Landschaften des mittleren Westens der USA ausklingt.
Erst im Verlauf des Films wird deutlich, dass Malicks Intentionen nicht vordergründig auf Darstellungen schicksalhafter Zusammenhänge von Opfertum und Täterschaft in der Tradition klassischer Tragödien abzielen. Malick verweist vielmehr auf Prozesse einer Naturdynamik, die prinzipiell wertfrei sind. Erst menschliche Kultur und das Bedürfnis nach Sinnstiftung überhöhen diese Dynamik und kultivieren damit unwissentlich jene Gewächse, deren Früchte mit Tragik vergiftet sind. Um in menschlicher Unwissenheit keine Gewächse mit tödlichen Früchten zu kultivieren, drängen zwei Fragen auf Antworten: 
  1. Welche Erkenntnis können wir erlangen?
  2. Welche Haltung nehmen wir gegenüber unseren Erkenntnissen und ihre Beschränkungen ein?
Malick verflechtet in "The Tree of Life" zwei Filme über Natur und Kultur miteinander, deren Handlungsebenen und Szenen zunächst nebeneinander stehen. Szenen einer Familie, die offenbar in den 1950er Jahren im amerikanischen Süden der USA lebt, konfrontiert Malick mit Bildern der Evolution des Kosmos vom Urknall bis zur Entwicklung höheren Lebens auf der Erde. Empirische Sachverhalte der beiden Ebenen gleichen Blicken durch zwei nur einen schmalen Spalt geöffnete Türen, die zwei unendlich weit auseinander liegende Räume verschließen. Ein diese Räume umgebendes Gebäude verbirgt Nebel der Unwissenheit. Malick macht es dem Betrachter nicht einfach und liefert mit dem Film keine Deutungen über Zusammenhänge zwischen diesen Bildern aus. Zusammenhänge müssen Betrachter selbst herstellen, was aber erst in der Nachbetrachtung und auch erst dann gelingt, wenn sich Betrachter auf die Bilder einlassen. Dass Kultur aus Natur hervorgeht, ist eine triviale Aussage. Malick geht es um kategoriale Widersprüche zwischen Natur und Kultur, um kosmische Gleichgültigkeit gegegenüber Tragik, denen Menschen ausgesetzt sind, weil sie diese Tragik selbst erzeugen sowie um Antworten auf die Frage, ob oder wie diese Widersprüche aufzulösen sind.

Im Verlauf des Films erschließen sich die Szenen des familiären Alltagslebens als Erinnerungen. Aus einem Puzzle kurzer und längerer szenischer Rückblenden, die zwar sequentiell ablaufen, aber keinem Handlungsstrang folgen und daher ohne zwingende Abfolge nebeneinander stehen, entwickelt sich das Bild einer Familie. Das "Framing" von Familienszenen mit Prozessen der Evolution macht deutlich, dass der Film auf keine spezielle Familiengeschichte fokussiert und Malick keine entwicklungspsychologische Lektion erteilen möchte. Annahmen über autobiographische Bezüge wären Irrwege.

Als Urform und Keimzelle des sozialen Zusammenlebens stehen Familie und ihre Personen als Metapher für elementare Bedingungen und Erfahrungen menschlicher Existenz. Im Kontext einer kosmologischen Sicht zeigt Malick menschliche Handlungen und Schicksale als "Snapshots" eines durch den Urknall in Gang gesetzten Energie-Materie-Stroms, in dem alles mit Allem zusammenhängt. Aufgrund extrem eingeschränkter menschlicher Wahrnehmungsfähigkeit entzieht sich dieser Zusammenhang jeder Deutung und bleibt zwangsläufig unverstanden. Erst gegen Ende des Films führt Malick beide Ebenen zusammen, wobei er sie jedoch der empirischen Beobachtung entrückt und mit filmischen Mitteln als Szenen eines inneren Monologs darstellt. Als Folie seiner Projektionen nutzt Malick die Magie von Landschaften und Licht der Canyonlands und der Salzseen im mittleren Westen der USA. In der magischen Weite dieser bizarren Landschaft der uns umgebenden Welt reduziert sich Bewusstsein von uns selbst als Person und von der Bedeutung eigener Existenz auf seine natürliche Größe. Es wird sehr klein.
 
Während sich Kubricks Blick ohne naiven Fortschrittsoptimismus eher in die Zukunft richtet, schaut Malick dagegen zurück und findet ebenfalls keine optimistischen Perspektiven. Wie "2001" wirft "The Tree of Life" Fragen auf, ohne Antworten anzubieten. Malicks Film kann als Aufforderung verstanden werden, in dem uns treibenden monströsen, kollektiven hedonistischen Strom und trotz der Last der Alltagsbewältigung den Blick auf existenzielle Fragen und die Suche nach relevanten Antworten nicht aufzugeben. Malick macht darauf aufmerksam, dass die von uns als Schicksal empfundene Ohnmächtigkeit gegenüber dem Lauf der Dinge auf Missverständnissen menschlicher Kultursichten basiert. In Anbetracht der Gleichgültigkeit der Natur gegenüber unseren Ansprüchen an das Leben erweisen sich Optimismus und Pessimismus, Glück und Tragik als Irrtümer eines rationalen, zielorientierten Denkens und daher als die falschen Kategorien. Brad Pitt zerbricht als Mr. O’Brien in der Rolle des Vaters an diesem Irrtum.

O’Brian opfert seinen Traum von einer Musikerkarriere den Anforderungen, die das Leben vermeintlich an ihn stellt. Auf dem beruflichen Karriereweg als erfolgreicher Ingenieur gründet er eine Familie und bleibt seiner Familie ein zwar nicht immer geduldiger, aber trotzdem fürsorglicher Ehemann und Vater, der seine Söhne auf Anforderungen und Gefahren des Lebens vorbereitet. O’Brian verfolgt einen Lebensplan und ist bereit, auch unbequeme Wege einzuschlagen, wenn der Plan das erfordert. O’Brian ist ein erfolgsorientierter Mensch, er bleibt aber auch gottesfürchtig und akzeptiert seine Verantwortung gegenüber Gott und den Menschen. Sonntags spielt er die Kirchenorgel, und mit regelmäßiger Abgabe des Zehnten erfüllt O’Brian seine religiösen mildtätigen Verpflichtungen.

Die Art und Weise, in der O’Brian seine Rolle als Ehemann und Vater ausfüllt, lässt entwicklungspsychologische Aspekte des Lebens nicht unbeachtet. Diese bilden jedoch nicht den Kern der Botschaft, weil es Malick primär um angemessene Haltungen gegenüber dem Leben und in zwischenmenschlichen Beziehungen geht. O’Brians Haltung entspricht männlich-patriarchalischen Prinzipien. Gemäß dieser Deutung fasst Malick kulturell geprägte Männlichkeit als ein prinzipielles Missverständnis auf, in dem das Scheitern bereits angelegt und darum unvermeidbar ist. O’Brian und seine fragile Lebensplanung müssen scheitern, weil O’Brian sich als ein auf festem Grund verankerten Fels in der Brandung sieht, der Menschen seiner Umgebung Orientierung und Halt verschafft. O’Brian Perspektive macht ihn blind für die Problematik fehlender Geschmeidigkeit eines Felsens. Konfrontationen mit Gewalt können Felsen sprengen und selbst ohne jeden Gewaltexzess sind Felsen erodierenden Kräften nicht gewachsen. Sie zerfallen zu Sand und verwehen als Staub.

Wenn Jack, der älteste Sohn der O’Brians, seine Mutter angreift, weil sie gegenüber ihrem Mann vermeintlich keinen Widerstand leistet, zeigt diese Szene zunächst, dass Jack bereits die Haltung seines Vaters angenommen hat, den er trotzdem lieber tot als lebend wüsste. Gleichzeitig macht die Szene bewusst, dass die Haltung des männlichen Prinzips blind macht für Erkenntnis. Denn die Mutter leistet selbstverständlich Widerstand, aber aus einer sanften, geschmeidigen Haltung heraus, die sich nicht an materialisierbaren Zielen, sondern an Lebensanforderungen in konkreten Situationen orientiert. Der Mutter gelingen angemessene Gestaltungen von Lebenssituationen, ohne würdelosen pragmatischen Opportunismus zu betreiben. O’Brian erkennt immerhin, dass seine Frau eine andere Haltung einnimmt und wirft ihr vor, dass sie ihn nicht unterstütze, sondern sogar unterlaufe.

O’Brians erfolgsorientierter Pragmatismus erweist sich als Falle, weil er blind macht für die wirklichen Anforderungen des Lebens. Vorübergehend bewegt sich O’Brian auf einer Erfolgsspur und fällt darum umso tiefer in seiner persönlichen Katastrophe. Am Ende steht er wie der Ritter Antonius Block in Bergmanns Film „Das siebente Siegel“ vor den Trümmern seines Lebens und verzweifelt an Gott. Auf Blocks Kreuzzug in das Heilige Land verhält sich Gott nicht gemäß der Erwartung rationaler Kalküle "ritterlich-männlich". In Ermangelung göttlicher Zeichen lässt sich Antonius Block während der Rückreise in ein Schachspiel mit dem Teufel ein, weil er erwartet, dass Gott die Kämpfer vermeintlich göttlicher Interessen nicht in Stich lassen kann. Antonius Block verliert das Schachspiel, weil Gott erneut nicht eingreift. O’Brian muss ebenfalls hinnehmen, dass Gott nicht rational zu begreifen ist, sich nicht an Ritualen von Männlichkeit beteiligt und sich nicht einmal zeigt.
 
Ohne Schleier des Alltagsgeschehens erweisen sich hedonistisches Streben als vergängliches Glück, sinnstiftende Weltdeutungen als trostlos und Wucht von Emotionen des Verlustes, der Trauer und der Schuld als unvermeidbar. Resignation ist für Malick keine relevante Option. Er verhöhnt irrlichternde Menschen auf der Suche nach Orientierung im Meer von Zumutungen des Lebens nicht als würdelose Komiker des Absurden. Malick lenkt den Blick auf die Option, Gleichgültigkeit der Natur gegenüber menschlichem Leid mit Liebe zu begegnen. Mittels Liebe bewahren Menschen ihre Würde. Liebe stimmt gnädig, lindert Schmerz, schenkt Trost, öffnet Türen zu rational nicht erklärbaren und nur emotional wahrnehmbaren kosmischen Zusammenhängen. Jessica Chastain verkörpert in der Rolle als Mutter diese Haltung.

Hans Dieter Hüsch hätte vermutlich nicht widersprochen, aber vielleicht an dieser Stelle einen "pastoralen Drücker" angemerkt. Allerdings scheut der imaginäre Vorredner mit seiner Aufforderung zur "Solidarität der Kreaturen" ebenfalls nicht den "pastoralen Drücker". Wir schließen uns an und verneigen uns mit Dankbarkeit und Ehrfurcht vor Terrence Malick, der uns mit seinem großartigen Werk den Stellenwert unserer eigenen Existenz in ihrer infinitesimalen Bedeutung bewusst macht. Um am Leben nicht zu verzweifeln, darf sich soziales Leben nicht auf das Funktionieren in zugewiesenen oder selbst gewählten Rollen von Kultur beschränken. Malick geht noch weiter und deutet an, dass aus Sicht des Großen und Ganzen selbst die Relevanz abstrakter und kulturübergeifender ethisch-moralischer Prinzipien fraglich wird.
 
Verzichten möchten wir auf das stützende Korsett kulturell kodifizierter Werte trotzdem nicht, solange wir nicht wieder zu kosmischen Staub oder Energie-Materie-Partikeln zerfallen sind, sondern im Hier und Jetzt leben: Amen! (so sei es)

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