Im Vinschgau treffen wir auf uralte Kulturlandschaft, deren weiter entfernte Spuren sich in der Distanz von ca. 5.000 Jahren verlieren. Über Jahrtausende ist der Vinschgau ein Schmelztiegel keltischer, etruskischer, karthagischer, römischer, germanischer Kultur. Bäuerliche Kultur prägt bis heute das Tal. In der Vergangenheit wurde Getreide für den Eigenbedarf auf Terrassenfeldern angebaut. Landwirtschaft ist Im trockenen Tal auf Bewässerung angewiesen.(1) Ein aufwändiges Bewässerungssystem per Kanäle (Waale) führt Schmelzwasser von Gletschern auf Felder des Tals. Die Fruchtbarkeit vinschger Felder sicherten ehemals mehrere tausend Kilometer Waale. Ein Wasserrecht germanischen Ursprungs regelte die Verteilung. Aktuell sind nur wenige Kilometer Waale erhalten. Überwiegend befördern Pumpen Wasser der Etsch auf Felder.
Die Einwohner des Tals sind bodenständig, meistens fromm, traditionsbewusst, aber auch lebenstüchtig, aufgeklärt und schlau. Über Zeit ändert sich Kultur. Produktpolitik, Fleiß und Pestizide steigern kostengünstig den Ertrag von Landwirtschaft und damit den Wohlstand der Region. Aktuell bedient der Vinschgau den europäischen Markt mit Obst sowie zunehmend mit Beerenfrüchten, Wein und Obstbränden. Monokulturen sind anfällig für Schädlinge. Pestizide lösen vermeintlich das Problem, wenn Nebenwirkungen und Risiken des Einsatzes ausgeblendet bleiben. Wirtschaftlicher Erfolg der Monokulturen steigert deutlich sichtbar den Wohlstand im Tal. Pestizide gelten als unverzichtbarer Erfolgsfaktor. Der übliche massive Einsatz von Pestiziden findet zwar keine ungeteilte Zustimmung, aber Erfolg behält meistens Recht. Im sympathischen Rebellendorf Mals formiert sich jedoch Widerstand. Diashow der Fotoserie
Mals und Spitzige Lun, 2.324 m |
Ruine Fröhlichsburg, Kirchturm St. Martin |
Im Ort Mals etabliert sich um den Apotheker Johannes Fragner-Unterpertinger ein 'Promotorenkomitee für eine pestizidfreie Gemeinde Mals', das eine Volksabstimmung herbeiführen möchte. Die erforderlichen 300 Befürworter sind bald gefunden. Im September 2014 findet die Abstimmung statt. Das Ergebnis einer zumindest für Südtirol beispiellosen Form direkter Demokratie fällt eindeutig aus und schlägt weltweit beachtete Wellen: Bei 69 % Wahlbeteiligung stimmen 75 % der Wähler für eine pestizidfreie Zukunft der Gemeinde. Die Schlacht ist jedoch noch nicht gewonnen, sie beginnt erst.
St. Benedikt, 8. Jh. (Turm 12. Jh.) |
Motiv im Planeiltal |
Bei der Wahl zum Amt des Bürgermeisters erzielt Ulrich Veith im Mai 2015 mit 72 % Stimmenanteil ein überragendes Ergebnis seiner Wiederwahl.(7) Die Rebellen setzen sich durch. Am 17.07.2015 meldet stol.it: Malser Gemeinderat stimmt für das Pestizidverbot. Lobby-Arbeit konträrer Interessenverbände bleibt jedoch nicht erfolglos. Der Beschluss enthält 'Weichmacher' in Form der Einschränkung, dass ein Pestizidverbot nur "im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten" gelte. Fragen der Umsetzung im Rahmen von EU-Recht sind bislang ungeklärt.
Dass parlamentarische Demokratie aufgrund asymmetrischer Machtverteilung viele drängende Probleme nicht zu lösen vermag, ist hinreichend bekannt. Dass derartige Blockaden nicht fatalistisch hingenommen werden müssen, sondern mit Initiativen direkter Demokratie Veränderungen auch gegen politische Machtverhältnisse bewirkt werden können, zeigt einmal mehr eine Initiative, die Malser selbst als 'Wunder' empfinden. Wie die Umsetzung gelingt, ob das Beispiel Schule macht und weitere Initiativen anstößt oder gar zu einer so starken Bewegung werden kann, dass ähnlich der Schweiz direkte Demokratie in Südtirol gesetzlich verankert wird, vielleicht sogar über Südtirol hinaus ausstrahlt und Eingang in EU-Recht findet, sind spannende Fragen der näheren Zukunft. Die Thematik bleibt auf unserer 'Watch List'.
Anmerkungen
- (1) Niederschlagsarmut, hohe Sonnenscheindauer und hohe mittlere Jahrestemperaturenden machen den Vinschgau zu einem der trockensten Täler der Alpen. Vergleichbar Sizilien verzeichnet Schlanders 481 mm Niederschlag im Jahresschnitt (Messzeitraum 1921 – 2000). In Reschen sind es 663 mm. (Quelle: Wikipedia - Vinschgau/Klima)
- (2) Stille Revolutionäre in Burgeis
- (3) Das Pestizid-Referendum ignoriert EU-Recht, berichten mehrere Medien:
- Der Standard, 16.09.2014: Referendum rechtswidrig
- Tiroler Tageszeitung, 16.09.2014: Referendum für Pestizidverbot in Mals war gesetzeswidrig
- stol.it, 16.09.2014: Alles umsonst: Malser Abstimmung ist nichtig
- TAZ, 22.01.2015: Referendum hui, Gemeinderat pfui - (4) Artikel Spiegel Online vom 15.12.2008 zur EU-Pestizid-Zulassung: Offene Tür zum Missbrauch
- (5) 11.12.2014: Keine Mehrheit für Pestizidverbot, 10.01.2015: Kritik an Gemeinderräte in Mals
- (6) Der Blog Wunder von Mals informiert mit Clips und Texten über den Film.
- (7) Veith will nach Erdrutschsieg halten, was er versprochen hat
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