Mit dem Leben beginnt auch die Gefahr. (Ralph Waldo Emerson)
Fotograf Traugott beim Duisburg-Marathon 1991 |
Wir kennen Traugott seit 1973. Bei zunächst eher seltenen Begegnungen stellten wir bemerkenswerte gemeinsame Vorräte intellektueller, kultureller, sportlicher Interessen und Hobbys fest. Unsere Treffen wurden häufiger. Dank beiderseitiger Sympathie, Vertrauen, Hilfsbereitschaft entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft, die bald 50 Jahre besteht. Wir entdeckten vom sozialkonservativem, anti-aufklärerischem evangelikalem Pietismus geprägte Parallelen unserer Biographien. Vom Pietismus haben wir uns jeweils distanziert. Positiv teilen wir als langjährige Weggefährten zahlreiche Vorlieben, Ansichten, Aktivitäten, Events, Erlebnisse und haben auf der Wegstrecke manche Hürden gemeinsam bewältigt. Am Nachmittag des 28.01.2020 endet der gemeinsame Weg. Unser Freund Traugott ist verstorben. Er geht einen Weg voraus, auf dem wir ihm folgen.
Fotogalerien: Traugott 1979-2017 - Friedhofsbesuch 04. Oktober 2020
Die soziale Person
Das Wort Person ist vermutlich aus dem altgriechischen Wort πρόσωπον (prosopon) abgeleitet, das, was man sehen kann, also Gesicht oder sichtbare Gestalt. Das lateinische Wort persona bezeichnet in antiken Dramen Masken, durch die Schauspieler gesprochen haben. Je nach Kontext übernehmen wir alle im Leben verschiedene Rollen (Freund, Feind, Partner, Eltern, Kinder, Chef, Mitarbeiter, Arbeitskollege, Lehrer, Schüler etc.). Rollen sind mit spezifischen Mustern des Verhaltens, des Sprechens, der Körpersprache, der Kleidung etc. verknüpft und bewirken, dass Personen unterschiedliche Identitäten annehmen (bzw. Masken nutzen), die mitunter kaum integrierbar sind und zwischen denen Konflikte bestehen können. Wie jeder von uns bekleidete auch Traugott im sozialen Raum verschiedene Rollen, aber Traugotts Identität war immer dieselbe, weil Traugott immer er selbst war. In allen Rollen blieb Traugott glaubwürdig authentisch und dabei unverstellt, uneitel, überaus freundlich, vertrauenswürdig, verlässlich und hilfsbereit.
Traugott war nicht nur vielseitig interessiert, er war auch vielseitig naturwissenschaftlich, kunsthistorisch, musikalisch, literarisch, politisch gebildet. Breites Wissen nutzte Traugott nicht für Selbstdarstellungen, sondern als Basis nicht alltäglicher kommunikativer Kompetenz. Gesprächspartnern erschloss sich Traugotts Bildung erst in der Kommunikation, weil Traugott sich nie in den Vordergrund drängte. Ihm gelang mühelos, was anderen Menschen schwer fällt, Traugott konnte zuhören. Als interessierter Zuhörer verlor er nie seine Geduld. Gezielte Nachfragen zeugten von aufrichtigem Interesse und wollten nicht mit Detailwissen beeindrucken. Eigene Beiträge streute Traugott nur ein, wenn sie der Kommunikation dienen.
Wenn Freunde über emotionale Belastungen sprachen, konnte sich Traugott empathisch einfühlen. Eigene emotionale Belastungen waren dagegen für Traugott kein Gesprächsthema. Austausch über schöne Seiten des Lebens, das, wofür es sich zu leben lohnt (Ikigai), gelang dagegen mit Traugott mühelos und ermüdungsfrei auch über Stunden. Über Jahre haben wir viele dieser Gespräche geführt und wissen daher, dass wir einen bedeutenden Vorrat gemeinsamer Ansichten, Vorlieben und Wertschätzungen teilen. Traugotts Tierliebe und Begeisterung für Kakteen können wir jedoch nur wenig abgewinnen.
Obwohl oder gerade weil Traugott technisch interessiert, talentiert und gebildet war, erkannte er frühzeitig die potentielle Bedrohung politisch offener Kulturen und individueller Autonomie durch Prozesse der digitalen Transformation, weshalb er dieser nicht vermeidbaren Entwicklung mit Skepsis und Vorsicht begegnete und Unbequemlichkeiten in Kauf nahm. Digitale Produkte kommerzieller Unternehmen mied er möglichst. Im Netz bewegte sich Traugott gemäß Konzept der Datenvermeidung und Datensparsamkeit. Social Media Produkte betrachtete Traugott als Tabu. Auf Papier verbreitete Informationen (Bücher und Zeitungen) bevorzugte Traugott gegenüber digitalen Informationen. Wenn er digitale Produkte nutzte, waren es vor allem vertrauenswürdige Produkte der Open Source Community.
Schlaglichter der individuellen Persönlichkeit
Schlagworte und Label vermögen die Persönlichkeit eines Menschen niemals in ihren zahlreichen Farben, Schattierungen und Facetten vollständig zu erfassen. Wenn wir ungeachtet dieser Einschränkung die Lebensphilosophie eines Menschen mit Etiketten versehen, steht eine breite Palette an Labeln (Tags) zur Verfügung, z.B. Künstler, Held, Versager, Sportler, Organisator, Visionär, Schwätzer, Blender, Schweiger, Fetischist, Sadist, Masochist, Lügner, Trinker, Betrüger, Weltverbesserer, Gutmensch, Esoteriker, Veganer etc. oder auch graue Maus, die unter dem Radar von Tags verschwindet. Traugott passt in keine dieser Schubladen, aber geeignete Label sind auch für ihn zu finden. Traugott war Wanderer & Fotograf, Radfahrer, Bastler, Musikfreund, Genießer.
Der Wanderer
Lange vor uns nutzte Traugott einen beträchtlichen Anteil seiner Freizeit für Wanderungen (bis vor einigen Jahren auch für Radtouren) in der Natur. Im Rheinland waren die Ville, das Bergische Land, der Kottenforst und das Siebengebirge Traugotts bevorzugte Reviere. Verwandtschaftsbesuche im Raum Bielefeld verband Traugott gerne mit Wanderungen im Teutoburger Wald und im Weserbergland. Wenn Traugott sich bei Freunden in Berlin aufhielt, wanderte er selbstverständlich im Großraum Berlin. Seit wir in den 1980er Jahren unsere eigene Wanderleidenschaft entdeckten, blicken wir auf zahlreiche gemeinsame Wanderungen und auf erinnerungswürdige Wandererlebnisse in Deutschland und im Ausland zurück, etwa in der Eifel, im Pfälzerwald, am Rhein, an Ahr, Mosel, Saar, in den Bayerischen Alpen, im Südtiroler Alpenraum, im Schottischen Hochland, auf den Hebriden, auf Orkney.
Der Fotograf
Traugott war ein begeisterter und talentierter Fotograf. Wir staunten oft über Traugotts Blick für Motiv, Stimmung, Perspektive, Bildkomposition. Wanderungen erschließen eine große Vielfalt von Fotomotiven. Traugott wanderte nie ohne Fotoapparat. In analoger Zeit nutzte er eine Spiegelreflexkamera der Marke Practica mit M42-Objektivgewinde. Auf Wanderungen hatte Traugott immer einen kleinen Vorrat Rollfilme im Gepäck und kehrte regelmäßig mit einer größeren Anzahl Aufnahmen zurück. Schwarz-Weiß-Aufnahmen entwickelte Traugott zu Hause in eigener Dunkelkammer. Traugott bewunderte den US-amerikanischen Fotografen Ansel Adams (besonders dessen im Yosemite Nationalpark entstandene Fotos) und orientierte sich an Ansel Adams künstlerischer Landschaftsfotografie. Digitale Fotografie stellt deutlich andere Anforderungen, mit denen Traugott ein wenig fremdelte.
Der Radfahrer
Ehe vor einigen Jahren Traugotts Fahrrad aus dem Keller seiner Wohnung gestohlen wurde, legte Traugott Strecken in Köln vor allem mit dem Fahrrad zurück. In der warmen Jahreszeit unternahm Traugott häufig ausgiebige Radtouren in der Kölner Umgebung. Unvergesslich ist eine der seltenen gemeinsamen Radtouren vor 15 Jahren anlässlich der Eröffnung des letzten Abschnitts des Ahr-Radwegs von Blankenheim nach Ahrdorf. Lokale Medien bewarben das Ereignis und kündigten zur Eröffnung zahlreiche Festivitäten an. Traugott und ich verabredeten sich zur Teilnahme. Selbstverständlich wollten wir den gesamten Ahr-Radweg von der Quelle bis zur Mündung fahren. Gisela konnte uns nicht begleiten, weil sie mit Abitur-Klausuren beschäftigt war.
Von Köln nach Blankenheim bot sich die Regionalbahn an. Am Kölner Westbahnhof traten die ersten von etlichen Hindernissen auf: Fahrkartenautomaten waren defekt. Wir waren entschlossen, die S-Bahn ohne Fahrkarte bis zum Hauptbahnhof zu nutzen und Fahrkarten vor dem Umstieg in die Regionalbahn zu lösen. Die S-Bahn war überfüllt und konnte keine Radfahrer aufnehmen. Zum Hauptbahnhof fuhren wir mit dem Rad. Die Deutsche Bahn hatte neuerdings Fahrkartenautomaten für Regionalverbindungen eingeführt. Die Bedienung der Automaten war als Intelligenztest konzipiert, an dem nicht nur wir scheiterten. Nur mit Hilfe von Mitarbeitern der DB erstanden wir Tages-Regionaltickets. Auf dem Bahnsteig wartete eine kaum überschaubare Menge an Radfahrern auf den Regionalzug. Als dieser einlief, stellte sich heraus, dass die Bahn auf den Ansturm nicht vorbereitet war. Der Zugführer wollte den Zustieg der Radfahrer verhindern, was ihm natürlich nicht gelang. Nachdem die Radfahrer den Zug im Sturm erobert hatten, erklärte der Zugführer, dass der Zug so nicht fahren könne und die Radfahrer aussteigen müssten. Kein Radfahrer verließ den Zug. Der Zug fährt mit uns oder gar nicht, erklärten die Radfahrer. Nach einiger Wartezeit startete der Zug nach Blankenheim.
An der Ahrquelle in Blankheim sammelte sich eine nicht überschaubare Menge an Radfahrern aus dem weiten Umkreis. Tausende Radfahrer waren dem Aufruf gefolgt. Flottere Fahrweise und Überholmanöver waren kaum möglich, weil viele Radler in Pulks fuhren. Ortschaften an der Strecke zeigten sich besser vorbereitet als die Bahn. Grill- und Kuchenstände luden zu Stops ein. Musikkapellen verbreiteten Stimmung. Ab Hönningen wurde es auf der Strecke ruhiger. An der Ahr-Mündung bei Remagen-Kripp hatten wir ca. 80 km auf dem Rad zurückgelegt, aber da Remagen in Rheinland-Pfalz liegt und unser Regionalticket nur für NRW gültig war, mussten wir noch ca. 20 km rheinabwärts strampeln, bis wir südlich von Bonn in Mehlem einen Bahnhof in NRW erreichten. Einige Wochen später haben wir die Tour zu dritt mit Giselas Begleitung ohne Rummel wiederholt.
Der Bastler
Zu Hause bastelte Traugott in seiner Freizeit mit Hingabe an Unterhaltungselektronik und an IT-Hardware. Seine Musikanlage baute er aus vorgefertigten Einzelkomponenten und optimierte immer wieder seine Abspielkette. In der ‚Steinzeit‘ des PC‘s erwarb Traugott zu Beginn der 80er Jahre den kostengünstigen Bausatz eines Sinclair ZX81 und baute sich seinen ersten Computer selbst. Der praktische Nutzen des Sinclair war eher unbedeutend. Das Erschließen von Technologie und Erfolgserlebnisse der Funktionstüchtigkeit standen im Vordergrund.
In seinem sozialen Umfeld war Traugott als Zweitverwerter ausgemusterter Elektronik bekannt. Er setzte defekte Technik wieder in Gang oder nutzte sie als Ersatzteilreservoir, wenn Instandsetzungen nicht möglich waren. Vor einigen Jahren entwickelte sich Traugott vom Windows- und Unix-Experten zum Linux-Experten. Expertise und technische Fähigkeiten stellte Traugott im Freundes- und Familienkreis bereitwillig zur Verfügung. Wenn Probleme auftraten (diese gab und gibt es mit großer Zuverlässigkeit regelmäßig), war Traugott ein gefragter Troubleshooter.
Der Musikfreund
Als Musikfreund war Traugott ein profunder Musikkenner mit ausgeprägten Vorlieben und Abneigungen quer durch Genres.
- E-Musik / Klassische Musik
Traugott liebte Musik für große Orchester mit großer Blechbesetzung. Auf der Zeitachse beginnen Favoriten mit Johann Sebstian Bachs Brandenburgischen Konzerten und Händels Symphonien, gefolgt von Sinfonien der Wiener Klassik (Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven). Traugotts Fokus liegt auf Musik der Romantik: Gustav Mahler, Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert Schumann, Hector Berlioz, Johannes Brahms, Anton Bruckner. Auf Konzertbesuche bereitete sich Traugott per Studium von Literatur und Partituren vor. Konzerte verfolgte er mit Partituren. Bei Claude Debussy endete Traugott Favoriten-Spektrum. Zeitgenössische und moderne Musik schienen ihn weniger zu interessieren. - Jazz
Beim Jazz waren Traugotts Vorlieben gegenüber seinen Favoriten klassischer Musik fast schon konträr, wenn er kleine kammermusikalische Ensemble mit oft wilden Stilen vorzog. Stilistisch konzentrierten sich Vorlieben auf Hardbop, Modaler Jazz und Free Jazz. Dank Traugott lernten wir in den 1970er Jahren bei unseren Musikhör-Sessions einige legendäre Größen kennen, deren Namen wir kaum kannten: John Coltraine, Ornette Coleman, Sonny Rollins, Charles Mingus, Thelonius Monk etc.. Die Bevorzugung von Saxophone-Bläsern bzw. 'Blech' schlägt auch hier durch.
Mit zeitlich jüngeren und zeitgenössischen Entwicklungen des Jazz fremdelte Traugott eher. Trotzdem haben wir 1994 gemeinsam im Stadtgarten Köln ein Konzert der Brecker Brothers besucht, allerdings ragten im Ensemble mit Mike und Randy Brecker zwei Top-Blechbläser heraus. Unter zeitnäheren Entwicklungen im Jazz bevorzugte Traugott an Folk anknüpfende Stile und Musiker wie Béla Fleck und Bill Frisell. - Rock und Blues
Grundsätzlich zog Traugott Bluesmusik der Rockmusik vor. Rockmusik konnte Traugott nur dann etwas abgewinnen, wenn sie Traditionen des Blues einbezieht. Artrock, Progressive Rock und Metal Rock scheiden aus. Zum Colosseum Reunion Concert im Kölner E-Werk hat uns Traugott 1994 vor allem wegen des Saxophonisten Dick Heckstall-Smith begleitet. Blues-lastig fiel auch die Musik des ebenfalls gemeinsam besuchten Konzerts zum 50. Geburtstag von Jack Bruce im E-Werk 1993 aus. - Popmusik
Traugott ist kein typischer Anhänger von Popmusik. Dennoch finden in diesem Genre einige Interpreten Gnade, u.a. Aufnahmen von Brian Eno, Alanis Morisette, Sting. Wie diese in Traugotts musikalischen Kosmos gelangt sind, wissen und verstehen wir nicht.
Der Genießer
Grundsätzlich war Traugott genügsam und bescheiden, jedoch kein Asket, sondern eher Genießer. Das Leben bereichernde kleine Genüsse verschaffte Traugott sich täglich, größere Genüsse regelmäßig.
- Zu kleinen Genüssen zählten Streuselkuchen und Croissants vom Lieblingsbäcker, nachmittägliche Teestunden, soziale Kontakte, Bastelarbeiten, Musikhören, Buchlektüren. Traugott interessierte sich für ein breites Spektrum an insbesondere französischen Kunstfilmen, die er regelmäßig in Programmkinos schaute. Sein eigener Fimfundus umfasste eine Sammlung von Filmen der Marx Brothers und von Jacques Tati (Monsieur Hulot), die Traugott köstlich amüsierten.
- Größere Genüsse verband Traugott mit Wanderungen in der Natur, mit dem Fotografieren von Naturmotiven, mit Besuchen des kostenlosen mittäglichen PhilharmonieLunch sowie von Konzerten und Ausstellungen. Da wir einige dieser Vorlieben teilten, haben wir sie oft gemeinsam genossen.
- Ohne gute Weine und gutes Essen wäre das Leben ärmer. Das verfügbare Budget setzt natürliche Grenzen, aber wenn sich Gelegenheiten boten, ließ Traugott sie nicht aus. Ein besonderer Digestive durfte nicht fehlen. Eine gute Zigarre war für Traugott der krönende Abschluss eines ausgezeichneten Essens, aber das ist aufgrund gesetzlicher Lage im öffentlichen Raum Vergangenheit.
- Hochgenüsse verband Traugott mit Reisen. Gemeinsame Reisen in den Alpenraum, nach Schottland und nach London zählen zum Schatz gemeinsamer Erinnerungen.
Biographische Skizze
Während des 2. Weltkriegs ist Traugott am 15. Mai 1943 als jüngstes von drei Kindern der Familie geboren. Der Vater war Diakon und leitete ein Haus der von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel in Bielefeld. Rollen der Einrichtung und ihrer Mitarbeiter während der NS-Zeit und in der Nachkriegszeit gelten als ambivalent und sind umstritten. Eine systematische wissenschaftliche Aufarbeitung der Periode durch unabhängige Gutachter hat bis heute nicht stattgefunden. In dieser Umgebung ist Traugott aufgewachsen. Über seine familiäre Sozialisation hat Traugott nie gesprochen. Geschwister erwähnt er in seinen Erzählungen selten und dann auch nur beiläufig. Diese Sachverhalte mögen bedeutsam sein, aber jede Deutung seitens Dritter ist spekulativ.
Ein Studium im Fach Chemie in Münster und Aachen schloss Traugott mit Diplom ab. Wer nicht in Reichtum badet und nicht parasitär leben möchte, muss einer abhängigen Erwerbstätigkeit nachgehen. Eine Berufskarriere als Diplom-Chemiker wäre eine logische Entwicklung. Berufliche Karriereaussichten und Privilegien treiben Erwerbstätige zu Leistungen an, die Sozialstatus verleihen und Konsum-Optionen erweitern. Traugott hatte andere Träume. Seine Haltung und sein Lebensstil unterschieden sich deutlich vom Mainstream. Traugott strebte nicht nach Wohlstand oder Reichtum, Ansehen oder Macht. Sozialstatus oder vorzeigbare Statussymbole interessierten ihn nicht. Priorität hatte für Traugott Autonomie, d.h. soweit wie möglich selbstbestimmte Freiheit der Lebensgestaltung gemäß eigener Vorstellungen. Traugott entschied sich dafür, seine Arbeitsleistung nur in dem Umfang anzubieten, der persönliche Autonomie nicht behindert, sondern ihr im Gegenteil dient. Lebensstil und materielle Ansprüche orientierten sich an dieser Haltung. Der Hobby-Bastler entwickelte sich zum pragmatischen ‚Lebens-Bastler‘.
Ein gut dotierter Lehrauftrag im Fach Chemie für einen Tag pro Woche an der damaligen Fachhochschule Niederrhein (seit 2001 Hochschule Niederrhein) fügte sich in diese Vorstellungen. Da Traugott freiberuflich tätig war und nur für geleistete Stunden honoriert wurde, füllte ein zweiter Job an der Telefonzentrale im Malteser Krankenhaus Köln Einkommenslücken. Während des Semesters versah Traugott einmal pro Woche den Nachtdienst. In Semesterferien übernahm er mehrwöchige Urlaubsvertretungen. Das Modell funktionierte über mehrere Jahre zu Traugotts voller Zufriedenheit. Die Fachhochschule verlängerte den Lehrauftrag von Jahr zu Jahr und der Personalbedarf an der Telefonzentrale schien konstant zu sein.
Bekanntlich ist nichts von Dauer. Nach einigen Jahren lief der Lehrauftrag an der Fachhochschule in Krefeld aus. Im Krankenhaus wurde eine neue Telefonanlage mit automatischer Vermittlung installiert. Eingehende Gespräche ohne Durchwahl mussten zwar noch immer angenommen werden, aber das deutlich geringere Aufkommen konnte über Tag die Pforte bewältigen. Für Nachtdienste fand Traugott noch Beschäftigung. Zukunftssicher war der Job nicht mehr.
Traugott fand einen neuen Job in der Garagenwerkstatt eines Ein-Mann-Betriebs in Niederkassel. Der Inhaber stellte Geräte für Heilpraktiker und für ein Esoterikpublikum her, u.a. Ionisatoren, Biofeedback-Geräte und Geräte für Kirlian-Fotografie. Der Job war wie geschaffen für Traugotts Bastlerherz. Traugott lötete Komponenten auf Platinen und verbaute sie in schicken Gehäusen. Beschäftigungssituation und Entlohnung waren jedoch ein ständiges Vabanquespiel. Die Auftragslage schwankte stark. Wenn sie schlecht war, gab es wenig oder nichts zu verdienen. Wenn sie gut war, zahlten Auftraggeber nach erheblichen Vorleistungen des Auftragnehmers nur schleppend und manchmal auch gar nicht. Traugotts Entgeltansprüche wuchsen. Ausgezahlt wurden nur Teilbeträge. Eine familiäre Krise des Inhabers führte in die Insolvenz des Betriebs. Entlohnungsansprüche in der Größenordnung mehrerer tausend DM schrieb Traugott stillschweigend ab. Er wollte das Schicksal der Familie nicht erschweren und begab sich lieber selbst in eine wirtschaftliche Krise, die durch Untervermietung eines Zimmers seiner Wohnung nicht zu lösen war.
Traugott im Rechenzentrum (1992) |
Traugott war ein Gewinn für die Firma und selbst empfand er Erfolgserlebnisse als belohnend. Traugott fand schnell Freude am neuen Beruf und übte ihn über mehr als 20 Jahre bis zum Erreichen des Ruhestands nicht notgedrungen, sondern gerne aus. Im Ruhestand blieb Traugott mit einigen Ex-Kollegen in Kontakt. Wöchentliche Treffen zum Mittagsimbiss wurden zur Institution. Nach dem Treffen vom 4.12.2019 war der 11.12.2019 als nächstes Treffen vereinbart. Traugott konnte nicht teilnehmen, weil ein am 7.12.2019 eingetretenes gesundheitliches Ereignis seine Teilnahme verhinderte. Aufgrund einer Anfrage irritierter Kollegen konnten Informationen über Ursachen des Fehlens ausgetauscht werden.
Traugott schätzte die regelmäßigen Treffen mit Ex-Kollegen, aber sie bildeten nur einen kleinen Ausschnitt seiner Aktivitäten im Ruhestand. Traugott pflegt sein Ikigai. Er unternahm häufig Wanderungen, besuchte Ausstellungen und Konzerte, beschäftigte sich mit Literatur und Musik, hielt soziale Kontakte wach und knüpfte neue Kontakte. Traugotts IT-Kompetenz war über den Freundeskreis hinaus bekannt. Auf Vermittlung Dritter half Traugott unentgeltlich ihm zunächst unbekannten, nicht IT-affinen Menschen bei der Lösung ihrer privaten IT-Probleme. Dank seiner Hilfsbereitschaft gewann Traugott neue Freundschaften, die ihm Schwung verliehen und ihn beflügelten. Ebenfalls durch Vermittlung Dritter entdeckte Traugott bisher verborgene eigene Qualitäten als Deutschlehrer einer kurdischen Asylantenfamilie. Über mehrere Jahre unterrichtete Traugott die Familie selbstverständlich unentgeltlich mit deutlichem Erfolg in deutscher Sprache und ist auf diesem Wege der Familie ans Herz gewachsen.
- Traugott zum 70. Geburtstag - Wir arbeiten, um Muße zu haben
- Nachfeier Traugotts 70. Geburtstag an der Saarschleife
1970er bis Mitte 1980er Jahre
Traugott in der Bachemer Straße (Foto 1989) |
Traugott und Karlheinz in der Hillerstraße (Foto 1979) |
Ab Mitte 1980er Jahre
Kölner Brückenlauf über 15 km (1989) |
Nachtlauf von Zons über 7 Meilen (1989) |
Geburtstagsmarathon Rund um Köln (1979) |
Geburtstagslauf im Kölner Stadtwald (2000) |
Stammtisch ab 1990er Jahre
Halde Haniel, Bottrop-Oberhausen (2015) |
Rheindeich bei Orsoy am Niederrhein (2015) |
Urlaubsreisen in den Alpenraum ab 1992
Bocchette Centrale (Brenta 1955) |
Klettersteigtour Brenta 2002 |
Martelltal (Südtirol 2012) |
Gipfel Piz Chavalatsch (Südtirol 2013) |
Urlaubsreisen nach Schottland ab 2005
Queens View am Loch Tummel (Schottland 2005) |
Highlands Schottland |
Traugott auf der Isle of Skye, Innere Hebriden (2008) |
Traugott in Schottland (2008) |
Vor der letzten Zusammenkunft am 29. November 2019 erstellte Traugott
diesen Diashow-Clip - Schottland-Reise 2009 - und übergab ihn beim Treffen.
You'll Never Walk Alone
Wanderer im Glen Affric (Schottland 2007) |
Wanderer auf dem Gipfel Ben Nevis (Schottland 2007) |
Traugott auf der Isle of Skye, Innere Hebriden (Schottland 2008) |
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen