Das Historische Archiv der Stadt Köln ist das größte und eines der bedeutendsten Kommunalarchive Deutschlands.(1,2) Den Zweiten Weltkrieg überstand das Historische Archiv unbeschadet und existierte bis zum 3. März 2009 an der Severinstraße keineswegs im Verborgenen, aber für die breite Öffentlichkeit war es eher unsichtbar. Das änderte sich schlagartig am 3. März 2009. Innerhalb eines Tages machten negative Schlagzeilen das Kölner Stadtarchiv weltberühmt. Bauarbeiten für eine neue U-Bahnstrecke brachten das Gebäude am 3. März 2009 zum Einsturz. Mit dem Gebäudeschutt versanken 30 Regal-Kilometer Archivmaterial im Grundwasser der Baugrube.(3) Zwei junge Männer starben.(4,5) Die bis heute nicht abgeschlossene und voraussichtlich noch Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte laufende Aufarbeitung dieses Ereignisses zeigt jedoch auch, dass bereits vor diesem Ereignis das Archiv längst nicht im 'Grünen Bereich' lag.(6,7) Es gibt aber auch gute Nachrichten. Am 3.
September 2021 konnte ein beeindruckender Neubau des
Historischen Archivs eingeweiht werden, der 12,5 Jahre nach dem Einsturz einen Neustart ermöglicht.(8,9,10) - Fotoserie
Auf das Themenfeld 'Einsturz' kommt der Post im letzten Kapitel zurück. Vorrang haben gute Nachrichten. Mit drei Besuchen verschaffen wir uns ein eigenes Bild vom neuen Stadtarchiv und der Ausstellung. Anlässlich der Eröffnung zeigt die Ausstellung Vergiss es! Nicht im Erdgeschoss des Gebäudes, dass das Archiv trotz Einsturz vor 12 Jahren lebt und der Einsturz das historische Gedächtnis der Stadt Köln keineswegs ausgelöscht hat, wie Medien teilweise unsachlich berichteten. Dieser Post berichtet von einer Führung durch die Ausstellung und durch das Gebäude am 16.11.2021, organisiert von der Bürgervereinigung Rodenkirchen. Die Ausstellung vermittelt Geschichte nicht als ermüdende, in Jahreszahlen geordnete Listen von Kriegen, Herrschern, Helden und Schurken, sondern als ebenso vielschichtige wie vielsichtige, oftmals manipulierte und immer kulturell verzerrte Erfahrungen, die unser Denken und Handeln in der Gegenwart beeinflussen.
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- Stadt Köln: Historisches Archiv
- Wikipedia: Historisches Archiv der Stadt Köln
- Süddeutsche Zeitung: Köln: Stadtarchiv eingestürzt - Trümmerberg in der Kölner Südstadt
- Süddeutsche Zeitung: Suche nach Khalil G.: Seine Börse, seine Jacke
- Süddeutsche Zeitung: Khalil ist tot
- FAZ, 10.03.2009: Dokument der Sorglosigkeit
- FAZ, 03.03.2017: 8 Jahre nach Einsturz des Kölner Stadtarchivs: Ein Bild der Stadt
- Stadt Köln: Das neue Stadtarchiv am Eifelwall
- WDR, 03.09.2021: Neues Kölner Stadtarchiv zwölf Jahre nach Einsturz eröffnet
- ZEIT, 03.09.2021: Neues Stadtarchiv in Köln eröffnet
1 Informationen und Daten zum neuen Historischen Archiv der Stadt Köln
Zur europaweiten Ausschreibung eines Wettbewerbs für den ehrgeizigen Neubau eines Historischen Archivs wurden 40 Entwürfe eingereicht. Die Ausschreibung gewann im Juni 2011 das Darmstädter Architekturbüro Waechter + Waechter Architekten.(1) Der Entwurf überzeugte mit einem Haus-im-Haus-Konzept, das funktionale Nutzungseinheiten zugleich trennt als auch verbindet und sich in Traufhöhen der Bebauung am Eifelwall einfügt. Ein rechteckiger viergeschossiger Baukörper mit 126 m Kantenlänge umschließt das Schatzhaus eines siebengeschossigen Magazinbaus mit 65 Regalkilometern auf 8.800 qm Fläche. Der Magazinbau ist bronzefarben verkleidet. Aus der Mantelbebauung geben zwei nicht zu betretende begrünte Innenhöfe den Blick auf das 20 m hohe Schatzhaus frei. Den äußeren Baukörper gliedert nach allen Seiten eine vertikale Lamellenfassade aus Baubronze, die dem Licht- und Klimamanagement dient und dem Gebäude eine transparente Wirkung verleiht. Haupteingang und Publikumsbereiche sind mit der schmalen Gebäudeseite und einem Vorplatz zur Luxemburger Straße ausgerichtet. Die Öffnung zur Stadt betont den einladenden Charakter des Archivs als 'Bürgerarchiv'. Der innerstädtische Masterplan sieht eine Erweiterung des Inneren Grüngürtels vor, durch die das Archiv in eine Parklandschaft eingebettet werden soll.(2,3)
Den Entwurf strich der Stadtrat aus Kostengründen nach und nach zusammen, bis am 03.03.2017 der Grundstein für eine kleine Lösung gelegt werden konnte.(4) Im Unterschied zu anderen öffentlichen Bauprojekten konnte das größte und eines der mordernsten Kommunalarchive Europas weitgehend im geplanten Zeit- und Kostenrahmen fertiggestellt werden. Trotz Streichungen entstand ein ebenso funktional wie ästhetisch überzeugendes Gebäude. Komplexe klimatische Anforderungen erfordern neun Klimazonen, die energieeffizient realisiert wurde. Qualität verwendeter Materialien, Raumgliederung, Lichtkonzept, warmtönige helle Farben sowie Anmutung und Haptik der Inneneinrichtung vermitteln Hochwertigkeit und erzeugen eine angenehme Atmosphäre. Anlässlich der Übergabe des neuen Historischen Archivs sparen Architekturmagazine nicht mit Lob für das gelungene Vorzeige-Projekt.(5)
Einen virtuellen Rundgang im Gebäude erlaubt ein Youtube-Clip (5:53): Führung durch das neue Stadtarchiv der Stadt Köln am Eifelwall
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- Architekturmagzin koelnarchitektur.de, 20.06.2011: Schatzkiste
- Stiftung Kölngrün: Innerer Grüngürtel
- Stottrop Stadtplanung: Masterplan Innerer Grüngürtel Köln
- Architekturmagzin koelnarchitektur.de, 03.03.2017: Baustart für die kleine Lösung
- Beiträge in Architekturmagazinen anlässlich der Übergabe am 3.09.2021:
- Architekturmagazin koelnarchitektur.de, 03.09.2021: Das Schatzhaus
- BauNetz: Bronzenes Schatzhaus am Eifelwall
- Bauwelt 20.2021: Der Schatz im Haus im Haus (PDF)
Besucherräume befinden sich auf der Nordseite in Richtung Luxemburger Straße. Der Besucherzugang liegt an einem Vorplatz, von dem Besucher durch einen Garderobenflur mit abschließbaren Schränken in ein großzügiges Foyer eintreten und auf das Schatzhaus im Lichthof blicken. Im öffentlichen Teil des Erdgeschosses sind Garderobe, Foyer, Ausstellungsraum, Vortragssaal und Besuchertoiletten eingerichtet. Im Foyer ist an einer Stützwand eine Sandsteinskulptur angebracht, die Heinrich von Beeck darstellt, ein Kölner Chronist des 15. Jahrhunderts, der die erste umfassende Chronik der Stadt Köln von ihren Anfängen bis zum Jahr 1419 erstellte. Die Skulptur stammt aus der 2. Generation des Figurenprogramms am Kölner Rathausturm, die im 19. Jahrhundert stark verwitterte Figuren der 1. Generation ersetzte. Sandsteinfiguren der 2. Generation verwitterten innerhalb weniger Jahrzehnte und erlitten im 2. Weltkrieg Schäden.(1) Seit Ende des 20. Jahrhunderts sind am Rathausturm Figuren der 3. Generation aufgestellt.(2)
Während bei unseren beiden vorhergehenden Besuchen keine Fotos innerhalb des Gebäudes gestattet waren, heißt es heute bei der Begrüßung der ca. 40 Teilnehmer dieser Führung, dass Fotos ohne Blitz im Gebäude erlaubt sind, wenn keine Personen aufgenommen werden. Da wir keinen Fotoapparat mitführen, können wir nur das Smartphone nutzen.
Teilnehmer werden auf 2 Gruppen verteilt. Historiker und Archivar Dr. Max Plassmann, stellvertretender Leiter des Historischen Archivs und Kurator der Ausstellung Vergiss es! Nicht, führt Gruppe1 durch die aktuelle Ausstellung. Gruppe2 führt eine Mitarbeiterin des Historischen Archivs durch Räume der 1. und 2. Etage. Nach ca. 45 Minuten wechseln die Gruppen. Gemäß Prinzip 'das Beste zuletzt' beginnen wir in Gruppe2 und steigen auf einer ästhetisches Vergnügen bereitenden Treppenanlage nach oben.
Der Lesesaal liegt auf der 1. Etage des Archivs über dem Ausstellungsraum und dem Vortragssaal. Der Lesesaal ist der Ort, an dem ein Präsenzbestand und gezielt angefordertes Archivmaterial durchgesehen werden kann. Der Präsenzbestand des Lesesaals befindet sich im Aufbau, weshalb Regale noch luftig wirken. Nutzer haben wir bei unserem kurzen Einblick nicht angetroffen. Wahrscheinlich wird das anders werden, wenn Informationen über attraktive Optionen im Haus öffentlich bekannt werden. Fragen aus dem Teilnehmerkreis der Führung machen deutlich, dass Zwecke, Optionen und Arbeitsbedingungen von Nutzungen des Archivs eher unbekannt sind.
Der Flur der 2. Etage führt entlang der bronzenen Wand des Schatzhauses zu straßenseitig gelegenen Werkstatträumen der Restaurierung. Die beiden besichtigten Werkstatträume dienen der Trockenreinigung von Archivgut, das nach dem Archiveinsturz mehr oder weniger stark verschmutzt geborgen wurde. Mengen betroffener Archivalien und der Zeitraum ihrer Reinigung können bisher nur grob geschätzt werden. Die nach außen kommunizierte Zahl von ca. 30 Jahren Restaurierungsdauer ist eher eine 'Luftnunmer'.(3) Gemäß derzeitiger Schätzung werden 200 Restauratoren benötigt, um das geborgene Material innerhalb von 30-50 Jahren zu restaurieren. Aktuell sind 13 Restauratoren beschäftigt, die kalkulatorisch 500 Jahre benötigen, um die Aufgabe zu erledigen.(4)
Anmerkungen und Fragen aus dem Teilnehmerkreis sind teilweise irritierend. Einigen ist das Licht zu hell, anderen ist es zu dunkel. Arbeitsergonomische Aspekte treffen auf keine Beachtung. Der Flur vor den Arbeitsräumen findet keine Gnade: zu kalt und zu nüchtern. Vielleicht werden Poster und Zierpflanzen vermisst.
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- Stadt Köln: Skulpturen auf dem Rathausturm
- Wikipedia: Liste der Kölner Ratsturmfiguren
- Dlf: Die Katastrophe ist noch nicht überwunden
- Kölner Stadt-Anzeiger, 16.04.2012: Heftige Kritik an der Archivleitung
3 Armin Maiwalds Film über das historische Archiv (ohne Maus): Wie funktioniert eigentlich ein Archiv?
Armin Maiwald, bekannt von der Sendung mit der Maus, hat im Auftrag der Freunde des Historischen Archivs der Stadt Köln e.V. den hier verlinkten Film erstellt, der Geschichte, Aufgaben und Bedeutung des Archivs für Köln vermittelt und Restaurierungsarbeiten nach dem Einsturz des Archivs darstellt.
4 Führung durch die aktuelle Ausstellung Vergiss es! Nicht im neuen Historischen Archiv der Stadt Köln(1)
L: Blick in den Ausstellungsraum
M: Thronender und segnender Jesus in einem Evangeliar aus St. Pantaleon, 9./10. Jahrhundert
R: Im Bild einer mittelalterlichen Handschrift verführt unten rechts ein dunkelhäutiger, blonder weiblicher Teufel Eva zur Sünde. Das Bild symbolisiert die vermeintlich höhere Anfälligkeit von Frauen für Sünden. Der Umkehrschluss impliziert weiß und männlich als überlegen.
Nach dem Einsturz des Historischen Archivs am 3. März 2009 war bald vom Verlust des Gedächtnisses der Stadt Köln die Rede. Selbstverständlich gibt es Verluste, aber die Ausstellung widerlegt mit einer Auswahl von Objekten die pauschale Aussage eines Totalschadens. Als Archivar, Experte des Mittelalters und Kurator der Ausstellung ist Dr. Plassmann bestens mit allen Exponaten vertraut. 105 Exponate einer Ausstellung können jedoch nicht bei einem 45-minütigen Rundgang detailliert kommentiert werden.(2) Dr. Plassmann beschränkt sich auf einige ausgewählte Exponate, anhand der er Kerngedanken dieser Ausstellung hoch kompetent und ausgesprochen unterhaltsam vermittelt.(3)
Am Beispiel Kölns und seiner reichen Vergangenheit geht die Ausstellung bedeutsamen Fragen nach, die über eine Präsentation historischer Objekte und Darstellungen ihrer historischen Kontexte deutlich hinausreichen und soziologische Fragestellungen einschließen:(4)
- Was ist eigentlich das kulturelle Gedächtnis?
- Was sind die Medien und Rituale des gesellschaftlichen Erinnerns?
- Woher weiß ich zuverlässig, was gewesen ist?
- Wie erkenne ich, ob der Spiegel, in den ich blicke, eine verzerrte Darstellung liefert?
- Wer bestimmt eigentlich mit welchen Mitteln, woran wir uns erinnern können, was der Spiegel zeigen soll?
- Was sind eigentlich Gedächtnisinstitutionen, wie z.B. Archive, deren Aufgabe es ist, gesellschaftliches Erinnern auch über das flüchtige menschliche Gedächtnis hinaus zu sichern und jeder Generation erneut die Möglichkeit zu geben, sich ein Bild von der Vergangenheit zu machen?
- Wie organisiert eine Gesellschaft die Erinnerung an ihre Geschichte, und was vergisst sie?
- Wie wird Geschichte verbogen und manipuliert, wie wird sie genutzt, um die Zukunft zu gestalten?
Fragestellungen machen deutlich, dass kulturelle Erinnerungen nicht als isolierte Fakten zu verstehen sind, sondern als in einem komplexen, hoch dynamischen Netz verwobene plastische Bedeutungsmuster, die wir als Kultur verstehen. Fragen zu kulturellen Erinnerungen erlauben nur selten abschließende Antworten. In der Realität werden kulturelle Erinnerungen aus verschiedenen Perspektiven unterschiedlicher Betrachter immer wieder neu gedeutet, manipuliert und ausgehandelt. Selbst einzelne Betrachter verändern ihre Perspektiven, weil der individuelle Blick auf die Welt mit verfügbaren Informationen, eigenen Erfahrungen und oftmals unbewussten Wertvorstellungen variiert.
105 Exponate der Ausstellung sind nicht nach formalen Kriterien geordnet (z.B. chronologisch oder alphabetisch), sondern nach inhaltlichen Metaaspekten von Erinnerungskultur, zu denen die Ausstellung jeweils mehrere Beispiele mit Erläuterungen präsentiert:(5)
- Medien der Erinnerung
- Totengedächtnis
- Deutung, Umdeutung, Manipulation
- Rituale der Erinnerung
- Familien als Erinnerungsgemeinschaften
- Verluste, Niederlagen, Katastrophen
- Institutionen der Erinnerung
- Einsturz und Wiederaufbau
Ein von Dr.
Plassmann verfasster beachtenswerter Begleitband zur Ausstellung vertieft Themen der Ausstellung, aber er bietet ebenso wie die Ausstellung keine abschließenden Antworten auf Fragen der
kulturellen Erinnerung.(6) Die Intention der Ausstellung ist eine andere. Sie betreibt Aufklärung, indem sie nicht
nur die Komplexität kultureller Bedeutungsmuster aufzeigt, sondern
bewusst macht, dass Zuweisungen von Bedeutungen zu historischen
Ereignisse auf bewussten oder unbewussten Konstrukten beruhen, die keine
Objektivität beanspruchen können. Vermeintliche Objektivität
historischer Sachverhalte ist eine Illusion, mitunter auch eine
Manipulation, die kulturelle Artefakte im Dienst politischer und/oder
wirtschaftlicher Interessen instrumentalisiert. Wie diese Botschaft in
der Ausstellung umgesetzt ist, beschreibt dieser Post an drei
Beispielen, die einen Besuch der Ausstellung nicht ersetzen.
4.1 Kölner Verbundbrief von 1396
Im Mittelalter bekämpften in Gaffeln organisierte Kölner Kaufleute und Handwerker die Oligarchie weniger Kölner Patrizierfamlien, die sich als Geschlechter bezeichneten und seit 1180 faktisch die Macht in der Stadt selbstherrlich und korrupt ausübten.(7,8,9) Im Juni 1396 stürzten Kölner Gaffeln die teilweise untereinander verfeindeten Geschlechter. Vertreter der Gaffeln und Zünfte erarbeiteten eine neue Stadtverfassungen, die Ämterverteilungen und Amtszyklen regelte. Von dem in 23 Exemplaren ausgestellten Verbundbrief erhielt jede Gaffel ein Exemplar. Ein Exemplar gehörte der Stadt. Die am 14. September 1396 von der Stadt und Vertretern der 22. Gaffeln besiegelte Verfassung hatte als Verbundbrief Bestand bis 1794.(10,11) Um eigene Vorteile durchzusetzen, wurde in der Kölner Vergangenheit
gerne auf den Verbundbrief verwiesen. Tatsächlich kannte jedoch kaum
jemand den Inhalt.
Das Ziel einer demokratischen Verfassung unter Beteiligung der Bürgerschaft wurde verfehlt. Bereits nach wenigen Jahrzehnten ersetzte eine neue Oligarchie weniger Familien die alte Oligarchie der Geschlechter. Das von den Patrizierfamilien etablierte und noch immer lebende System des Kölner Klüngels setzte sich mit Eigenmächtigkeiten, Vetternwirtschaft und Korruption erneut durch. Lediglich Familiennamen bzw. Akteure wechselten. Das Symbol einer fortschrittlichen Stadt, als die Köln während seiner
Blütezeit gelten kann(12), wurde zum Symbol der Erstarrung, in die Köln über
Jahrhunderte versank.(13)
Mit der französischen Besetzung des Rheinlands unter Napoleon (1794-1813) endete die bestehende Kölner Ratsherrschaft. Kurz zuvor war Nikolaus DuMont zum Bürgermeister gewählt worden. Nach der Besetzung Kölns reiste DuMont nach Paris, um Sonderrechte für Köln auszuhandeln. DuMont argumentierte, dass sich Köln mit dem Verbundbrief schon lange vor der Französischen Revolution eine demokratische Verfassung gegeben habe und daher als 'Erfinder neuzeitlicher Demokratie' gelten könne. DuMont konnte sich nicht durchsetzen. Die Kölner Administration widersetze sich Anordnungen französischer Behörden, die im Mai 1796 den Rat der Stadt Köln auflösten und durch eine Municipalverwaltung nach französischem Vorbild ersetzten. Die zunächst abgelehnte Verwaltungsreform scheint Vorteile gehabt zu haben. Nach dem Ende der französischen Herrschaft bat der Kölner Rat den
preußischen König um Beibehaltung des französischen Verwaltungs- und
Rechtssystems. Er konnte sich auch hier nicht durchsetzen.
In der Zeit des Nationalsozialismus wurde Adolf Hilter 1933 zum Ehrenbürger der Stadt Köln ernannt und erhielt als Geschenk ein Exemplar des Verbundbriefes, den er wahrscheinlich nie gelesen hat.(14) Über Motive des Geschenks kann man spekulieren. Vermutlich handelte es sich um eine Geste der Unterwerfung. Ein englischer Soldat fand 1945 die Urkunde in Hitlers zerstörtem Wohnsitz Obersalzberg und gab sie einige Jahre später zurück an die Stadt Köln. Genau dieses Exemplar der Urkunde ist in der Ausstellung zu sehen. Über diesen Kontext informiert Dr. Plessmann im Rahmen der Führung und ergänzt eine weitere Anekdote. Nach der Besetzung Kölns durch die US-Armee wurde Willi Suth 1945 mit der Leitung der Stadtverwaltung beauftragt.(15) Um Entnazifizierungsverfahren gegen Kölner Politiker abzuwenden, soll Suth auf den Verbundbrief verwiesen haben, den Kölner Politiker als traditionelle Demokraten verinnerlicht hätten. Ob diese Einrede Wirkungen entfaltete, ist eher fraglich.
4.2 Kölsch-Konvention von 1986
Die St. Peter von Mailand-Bruderschaft der Kölner Bierbrauer gehört zu den ältesten Handwerkerzünften in Deutschland. An der Erarbeitung des Verbundbriefs von 1396 hat die Brauer-Kooperation mitgewirkt und ist auf der Urkunde mit einem Siegel vertreten. Dem Schutzpatron der Bierbrauer stiftete die Kölner Bruderschaft eine Kapelle in der romanischen Kirche St. Andreas.(16) Kölsch ist jedoch eine relativ junge Biersorte, die sich erst nach dem 2. Weltkrieg herausbildete. Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein brauten in Köln zahlreiche Kleinbrauereien eine Vielzahl unterschiedlicher Biersorten. Insbesondere Hans Sion erkannte nach 1945 den Marktvorteil von Kölsch als einer eigenen, geschützten Marke, deren Bier nach verbindlichen Regeln hergestellt wird.
1981 beschloss der Kölner Brauerei-Verband die Ausarbeitung einer Konvention, zu deren Einhaltung sich alle Mitglieder verpflichten. 1986 unterzeichneten 24 Mitglieder die ausgehandelte Kölsch-Konvention.(17) Beteiligte Brauereien ließen als Werbemaßnahme eine repräsentative Urkunde fertigen, die den Verbundbrief nachahmt. Die Urkunde vermittelt den falschen Anschein, auf Pergament ausgestellt zu sein. Geflämmte Ränder täuschen Alter und Tradition vor. Tatsächlich handelt es sich um eine Aneignung von Geschichte zu Zwecken der Werbung.
4.3 Das Gefolge der Venetia - Erfindung des Kölner Karnevals im Jahr 1823
Karneval, Fastnacht, Fasching und ähnliche Formen wilder Feiern berufen sich zu Recht auf altes Brauchtum mit Vorläufern in der Antike und früher.(18) 1795 untersagte französische Besatzung die Kölner Fastnacht. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Straßenfastnacht weitgehend ausgestorben. Wo es Reste gab, wurden sie als vulgär abgelehnt. Nach dem Abzug der Franzosen fand 1823 mit der Gründung eines festordnenden Komitees eine Wiederbelebung des Kölner Karnevals als vermeintliche Tradition statt. Tatsächlich beabsichtigt war eine regulierte Veranstaltung des Kölner Bürgertums in alter anarchischer Verkleidung.(19) Das Festkomitee führte u.a. 1823 den Kölner Rosenmontagszug ein. Heinrich von Wittgenstein, 1. Präsident des Festkomitees, stellte für den Rosenmontagszug 1824 die abgebildete Liste des 'Gefolges der Venetia' zusammen. Mit der Venedig mystifizierenden Kunstfigur der Venetia sucht die Aufstellung Anschluss an älteres lebendiges Brauchtum in Venedig und führt zu diesem Zweck eine abenteuerliche Mischung von Personen auf, die im Gefolge der Venetia auftreten sollen: Figuren der Commedia dell'arte, mittelalterliche Ordensritter, Kölner Hänneschen, Bürgermeister, Ratsherren sowie die ebenfalls 1823 gegründete Folkloregruppe Rote Funken, die eine bis 1795 bestehende Kölner Stadtarmee parodiert.(20) Die künstlich erzeugte Tradition setzte sich schon bald im Kölner kulturellen Gedächtnis als vermeintlich uralte Tradition fest. In der Gegenwart gilt Kölner Karneval als Pflege alten Brauchtums.
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- Internetpräsenz: Vergiss es! Nicht
- Kurzbeschreibungen der Exponate: Broschüre zur Ausstellung (PDF)
- Unbedarfte Fragen aus dem Teilnehmerkreis machen deutlich, dass sich im Vorfeld der Ausstellung kaum jemand mit Aufgaben, Funktionen, Services eines kommunalen historischen Archivs beschäftigt haben kann. So wurde z.B. gefragt, ob und wie man im Archiv Informationen zur eigenen Abstammung finden könne. Andere Fragen betrafen umfangreiche Sammlungen alter Zeitungen und anderes persönliches Material, das man als Vorlass oder Nachlass dem Archiv überlassen wolle. Dr. Plassmann konnte souverän auf solche Fragen eingehen. Wenn man der Meinung sei, dass persönliches Material von Bedeutung für die Stadt Köln oder für die Allgemeinheit sei und annehme, dass dieses Material auch noch in 500 Jahren von Interesse sein könne, dann würde die Archivwürdigkeit geprüft.Gemäß eigenem Verständnis hat ein kommunales historisches Archiv nicht die Aufgabe, Gegenwart im Licht der Vergangenheit zu deuten, sondern solches kulturelles Material sicher und wiederfindbar aufzubewahren, das geeignet sein könnte, Gegenwart für beliebige Fragestellung verständlich zu machen und die Planbarkeit von Zukunft zu verbessern.
- Hier aufgeführte Fragen sind mit leichten Änderungen dem Flyer zur Ausstellung entnommen.
- Gliederung lt. Ausstellungskatalog
Der Ausstellungskatalog mit Erläuterungen von Dr. Plassmann zu allen Exponaten steht online als PDF-Dokument (84 Seiten) zur Verfügung: Vergiss es! Nicht. Vom Erinnern und Vergessenwerden
Als Print kann der Ausstellungskatalog im Lesesaal des historischen Archivs und im Buchhandel für 5 € erworben werden. - Link zu ISBN.de: Vergiss es! Nicht. Vom Erinnern und Vergessenwerden - Der Begleitband kann im Lesesaal des historischen Archivs und im Buchhandel für 25 € erworben werden. - Link zu ISBN.de: Erinnern, Vergessen, Identität. Das Kölner Stadtgedächtnis von Max Plassmann | Begleitband zur Ausstellung "Vergiss es! Nicht
- LVR - Portal rheinische Geschichte: Die Kölner Gaffeln
- Wikipedia: Kölner Patriziat
- Um ihre Herrschaft zu legitimieren, kultivierten die 15 führenden Patrizierfamilien die Legende, sie seien ursprünglich aus dem antiken Rom nach Köln entsandt worden, um im neu gegründeten Colonia der Herrschaft zu übernehmen. Das Exponat Nr. 41 der Ausstellung dokumentiert, dass sich noch 1586 ein Nachfahre einer Patrizierfamilie vom Rat der Stadt diese Abkunft bestätigen ließ. Der Rat tat dies bereitwillig und behauptete fälschlicherweise, dass in Kölner Schreinsbüchern Belege zu finden seien. (Schreinsbücher waren im mittelalterlichen Köln Vorläufer der heutigen Grundbücher.)
- Wikipedia: Geschichte der Stadt Köln: Verbundbrief
- Geschichte der Stadt Köln betrachtet im Zeitraffer der Post: 1700 Jahre Kölner Stadtgeschichte - Führung in Alt St. Heribert und Neu St. Heribert, Köln Deutz
- Deutschlandfunk: Historiker Carl Dietmar: "Die Internationalität des Mittelalters ist unheimlich groß"
- Deutschlandfunk: Erst fortschrittlich, dann verarmt: Wie sich Köln am Mittelalter festklammerte
- Bis 1939 folgten Herman Göring, Robert Ley, Alfred Rosenberg, Joseph Goebbels. In der Ratssitzung vom 27. April 1989 erklärte der Rat der Stadt die Nichtigkeit der Ehrenbürgerwürden von 1933 bis 1945. - Stadt Köln: Ehrenbürger von 1933 bis 1945
- Willi Suth war mit einer Schwester von Konrad Adenauer verheiratet, Lilli Adenauer, und von 1946 bis 1953 erster Oberstadtdirektor der Stadt Köln. Sein Nachfolger war Max Adenauer, Sohn von Konrad Adenauer.
- Eigener Post: Führung in der romanischen Kirche St. Andreas
- Kölner Brauerei-Verband: Kölsch-Konvention Wettbewerbsregeln des Verbandes
- Wikipedia: Karneval, Fastnacht und Fasching
- Wikipedia: Festkomitee Kölner Karneval
- Erst fast 200 Jahre nach der Schlacht von Worringen (1288) erlangte Köln 1475 den Status einer freien Reichsstadt. Als freie Reichsstadt war Köln gemäß Reichsmatrikel verpflichtet, ein Truppenkontingent für die kaiserliche Armee vorzuhalten. Die Kölner Armee bestand bis zur französischen Besetzung im Jahr 1795.
5 Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln im Jahr 1989 und das Echo des Einsturzes in Folgejahren
Dieser Post beabsichtigt nicht, die Geschichte des Einsturzes und seiner Nachwirkungen zu dokumentieren. Stattdessen listet der Post nachfolgend Quellen zu Themenfeldern des Einsturzes.
5.1 Meldungen der Süddeutschen Zeitung (SZ) zum Einsturz des Kölner Stadtarchivs
- 23.03.2009: Chronologie der Wegsehens
- 26.02.2010: Pfusch in Serie
- 03.03.2010: Weiterer Pfusch entdeckt
- 07.03.2010: Die Versicherung will für die Trümmer nicht zahlen
- 08.03.2010: Reuige Verkehrsbetriebe
- 17.03.2010: Das große Wegducken
- 17.05.2010: Kölner U-Bahn-Bau: Viel Ärger, viele Schäden
- 17.05.2010: Immense Mängel bei U-Bahn-Bau
- 17.05.2010: Hinweis auf organisierten Betrug
- 17.05.2010: Verlassen von allen guten Meistern
- 17.05.2010: Bauleiter muss Posten räumen
- 17.05.2010: Bodenlose Verwunderung
- 17.05.2010: In Köln waren Bodenproben egal
- 17.05.2010: Pfusch im großen Stil
- 17.05.2010: Noch mehr illegale Brunnen
- 17.05.2010: Offensichtliche Versäumnisse
- 17.05.2010: "Das war ein Risiko"
- 17.05.2010: Die Katastrophe von Köln: Auf wackligem Boden
- 17.05.2010: In allen Grundfesten erschüttert
- 17.05.2010: Einsturz aller Gewissheiten
- 17.05.2010: Kopflos nach der Katastrophe
- 17.05.2010: Wer muss bezahlen?
- 17.05.2010: Bauherren und Ratsherren
- 17.05.2010: Disziplinarverfahren gegen Baudezernenten
- 17.05.2010: Kölner Klüngel: Echte Fründe und dicke Pfründe
- 17.05.2010: Künstler Marcel Odenbach über Verantwortungslosigkeit in Köln: Das war kein Zufall
- 17.05.2010: Der Heinrich aus der Asche (Nachlass Heinrich Böll)
- 19.01.2018: Chronik eines Desasters - Alles in Fetzen
5.2 Weitere lesenswerte Beiträge zum Archiveinsturz
- Spiegel, 14/2009, zu Fritz Schramma, Kölner Oberbürgermeister zum Zeitpunkt des Archiveinsturzes: Die Schuld der Anderen (PDF)
- Süddeutsche Zeitung, 19.01.2018: Chronik eines Desasters - Alles in Fetzen
- Dossier der Bürgerinitiative Köln kann auch anders: Die Zerstörung des Stadtarchivs – Kölner
Katastrophe mit Ansage - Eine Geschichte von Verantwortungslosigkeit, Inkompetenz und
Schlamperei (PDF-Dokument, 63 Seiten)
5.3 Artikel zum 10. Jahrestag des Einsturzes
- Stadtrevue 3/2019: Bettis Resterampe
- FAZ: Oliver König: Die Verantwortung bleibt verschüttet (PDF)
- NRhZ-Artikelserie anlässlich des Einsturzes des Historischen Archivs der Stadt Köln vor 10 Jahren: Das Gewissen von Köln
5.4 Ursachenforschung und Gerichtsprozess zum Stadtarchiv-Einsturz
- 18.01.2014, Spiegel: Staatsanwaltschaft ermittelt gegen rund 100 Personen
- 24.02.2014: FAZ: Nach Gründen tauchen
- 23.05.2017, Spiegel: Sieben Personen wegen Einsturz des Kölner Stadtarchivs angeklagt
- 17.01.2018, Spiegel: Anklage sieht Baufehler als Unglücksursache
- 17.01.2018, SZ: Es war wie bei einem Erdbeben
- 31.01.2018, Spiegel: Prozess in Köln: "Dann riss das Archivgebäude in der Mitte auseinander"
- 16.05.2018, Spiegel: Gutachter nennt Baufehler als Einsturzursache
- 26.09.2018, Spiegel: Anklage fordert Bewährungsstrafen
- 04.07.2018: FAZ: Gutachter: Ursache für Archiveinsturz eindeutig geklärt
- 12.10.2018, SZ: Eine Bewährungsstrafe und drei Freisprüche
- 12.10.2018, Spiegel: "Das Unglück und der Tod von zwei Menschen war für Sie vorhersehbar"
- 12.10.2018, Dlf: Gespräch mit Frank Deja von der Bürgerinitiative Köln kann auch anders auch anders: Die Falschen saßen auf der Anklagebank
- 07.02.2019, SZ: Oberbauleiter wegen fahrlässiger Tötung verurteilt (ein Jahr auf Bewährung)
- 22.02.2019, Spiegel: Köln beziffert den Schaden auf 1,33 Milliarden Euro
- 16.10.2019, SZ: Staatsanwaltschaft und Bauüberwacher legen Revision ein
- 18.06.2020: Spiegel: Stadt Köln und Baufirmen handeln Vergleich aus
- 29.06.2020, SZ: Stadtrat stimmt Vergleich nach Stadtarchiv-Einsturz zu
- 07.07.2021, WDR: Bundesgericht prüft Urteile
- 13.10.2021, FAZ: Freispruch nach Einsturz von Kölner Stadtarchiv aufgehoben
- 13.10.2021, SZ: Gericht kassiert Freisprüche nach Kölner Archiv-Einsturz
- 13.10.2021, WDR: Prozess muss neu aufgerollt werden
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