Samstag, 23. März 2024

Vegetarische Küchenavantgarde im Restaurant Heimatjuwel, Hamburg-Elmsbüttel

Karottenorange: Karotte vom Hermannshof, Pumpernickel Straßenfront Restaurant Heimatjuwel Gastraum Restaurant Heimatjuwel
 
Zum 46. Hochzeitstags unternehmen wir eine Kurzreise nach Hamburg, die ein separater Post beschreibt: Kurzreise Hamburg 21. bis 24.03.2024 anlässlich unseres 46. Hochzeitstags. Am letzten Abend der Reise besuchen wir zum Dinner das Restaurant Heimatjuwel in Hamburg-Elmsbüttel. Das Konzept des Restaurants beschreibt der Internetauftritt des Restaurants aus Sicht des Inhabers und Chefkochs Marcel Görke. Der Post berichtet aus Sicht des Gastes von einem Esserlebnis, das Glücksgefühle verschafft, ungeachtet der Fragwürdigkeit des Heimatbegriffs, mit dem wir fremdeln. - Fotoserie
 

Küchenkonzept Heimatjuwel
 
Den Heimatbegriff praktiziert das Restaurant nicht als Floskel, sondern als Programm bzw. Konzept nachhaltiger Regionalität und Saisonalität. Gäste werden unabhängig vom Alter konsequent geduzt. Das wie selbstverständlich verwendete Du verschafft gewollte Nähe und vermittelt diffuse Anmutungen von Heimat, die das Schlusskapitel des Posts betrachtet.
 
Auf hohem Niveau bietet das Restaurant ausschließlich ein bis zu 6-gängiges Menü mit kreativen vegetarischen Gerichten auf Basis regionaler Gemüseprodukte. Während der Woche können Gäste aus der Karte 3 bis 6 Gänge wählen. Freitags und samstags sind 5 oder 6 Gänge obligatorisch. Ethische und gesundheitliche Aspekte sind keine Privilegien vegetarischer Konzepte, sondern relevant für jede Art von Ernährung und rechtfertigen keinen weltanschaulichen Dogmatismus. Das Heimatjuwel betreibt ein undogmatisches vegetarisches Konzept. Wahlweise kann mit Aufpreis ein Hauptgang inklusive Fleisch oder Fisch gewählt werden, deren Auswahl und Zubereitung ebenfalls strengen Kriterien nachhaltiger Esskultur in hoher Qualität unterliegt. Die Karte des Menüs dokumentiert die Herkunft der Produkte und benennt deren Produzenten aus dem regionalen Umfeld. 
 
 
Räumlichkeiten und Stil der Einrichtung
 
Gast des Restaurants Heimatjuwel, Rosésekt Schloss Vaux Menü Gast des Restaurants Heimatjuwel, Rosésekt Schloss Vaux Gastr-Nebenaum Restaurant Heimatjuwel
 
Die Straßenfront des Restaurants ist unscheinbar. Unkundige erwarten hier keine 'Juwelen'. Inside orientiert sich Design der Einrichtung am nordischen Stil: holzbetont, transparent, sachlich, aufgeräumt. Der Gastraum besteht aus zwei Räumen, in denen max. 30 Gäste bewirtet werden. Im überschaubaren rechteckigen Hauptraum befindet sich eine Bar. Tische sind in zwei Reihen relativ eng gestellt. Ein kleinerer Nebenraum bietet in intimerer Atmosphäre Platz für einen größeren und einen kleineren Tisch. Um 18:00 Uhr ist erst ein Tisch besetzt. Wir können unter den für 2 Personen eingedeckten Tischen wählen und entscheiden uns für den kleinen Tisch im Nebenraum. Bis 19:00 Uhr sind alle Tische vergeben.
 
Die Einrichtung der Gasträume dominiert Naturnähe demonstrierendes Holz. Holztische bedecken keine Tischtücher. Der größere Tisch des Nebenraums besteht aus einer massiven Naturholzplatte. Wände dekorieren Bilder mit Gemüsemotiven. Je Gedeck ist eine auf einem Holzbänkchen liegende Besteckgarnitur vorbereitet, die für alle Gänge zu nutzen ist. Das Verfahren ist in Restaurants dieser Klasse unüblich, aber unter Aspekten von Nachhaltigkeit konsequent. Getränke profitieren von hochwertigen Gläsern (Schott Zwiesel).  
 

Team und Auftritt
 
Das Team umfasst 6 Personen. In der Küche agieren 4 Männer inkl. Inhaber und Küchenchef Marcel Görke, der das Restaurant nach mehr als 10 Jahren Erfahrung in der Sternegastronomie 2016 eröffnete und seitdem kontinuierlich weiterentwickelte. Den Service organisieren 2 Frauen souverän und relativ forsch mit Charme. Wie es in Familien oft üblich ist, vermitteln sie selbstbewusst und bestimmend, dass Frauen hier etwas zu sagen haben. Einige Gänge bringen Mitarbeiter des männlichen Küchenteams an den Tisch, aber nur Marcel sagt Gerichte an. Mitarbeiter agieren völlig uneitel und kontrastierend zur Küchen-Hochkultur des Restaurants in Alltagskleidung und kommunizieren mit Gästen wie unter guten alten Bekannten und Freunden. 
 
 
Menü und Getränke

Gaumenhäppchen: Radieschen, Kartoffel, Kohlrabi Beeterot: Rote Bete vom Hermannshof, Grüne Erdbeeren, Sauerteig Laubgrün: Rosenkohl "Cesar Salad Style" Karottenorange: Karotte vom Hermannshof, Pumpernickel Sandbraun: Short Rib & Kalbskopfpraline vom Weidekalb, Zwiebeltexturen Vordessert Kohlgrün: Mohn & Grünkohl, Äpfel aus dem alten Land Wolkenweiß: Ziegenkäsegnudi, Steckrübe Naschkram
 
Die Speisekarte des Menüs wird in einem als Abschnitt eines Baumstamms gestaltetem Holzzylinder gereicht. Wir entscheiden uns für das 5-gängige Menü inkl. Fleisch (98 € pP) sowie 1x Weinbegleitung (49 €). Als Aperitife sind verschiedene Cocktails und ein Rosé-Sekt von Schloss Vaux angekündigt. Für einen Sekt, der im Einkauf weniger als 30 € pro 0,7 l kostet, sind 0,1 l zum Preis von 12 € forsch kalkuliert und nur als Mischkalkulation nachvollziehbar. Wasser ist mit 5,50 € für 0,7 l moderat bepreist. Zum Aperitif wird ein frisch gebackenes, süchtig machendes warmes Roggenschrot-Brot mit einer Kohl-Rouille serviert.
 
Eine Weinkarte ist nicht vorgesehen. Weine werden im Rahmen einer Weinbegleitung (49 € für 5 Weine) als spontanvergärte, ungefilterte und un- oder nur wenig geschwefelte Naturweine ausgeschenkt, von denen mehrere aus der Steiermark kommen, die großzügig der Heimat zugeschlagen wird. Eingeschenkt wird jeweils ein Stück über dem Eichstrich für 0,1 l. Weine der Weinbegleitung können aber auch einzeln geordert werden. Wie nicht anders zu erwarten ist, haben die Weine eigenwilligen, aber auch eigenständigen Charakter. Merken müssen wir uns keinen der Weine.
 
Auf der Karte angekündigte Gaumenhäppchen bestehen aus je drei exzellent zubereiteten Teilen, die Vorfreude auf nachfolgende Gerichte erhöhen. Wir fragen uns, ob der Küche nach diesem hervorragenden Auftakt der Aufbau eines Spannungsbogens gelingen wird. Die Frage ist überflüssig. Von Gang zu Gang steigert sich die Küche. 
 
Gänge des Menüs bauen jeweils auf einem Haupt-Geschmacksträger auf. Elemente weiterer Produkte ergänzen das Hauptprodukt aromatisch, optisch, gartechnisch und orchestrieren eine schlüssige Komposition. Jede der Kompositionen glänzt mit Vielfalt und Tiefe von Aromen, Texturen, Zubereitungsarten. Wir notieren keine Anmerkungen notieren und können daher Gerichte nachträglich nicht verlässlich beschreiben. Eine leicht zu verschmerzende kleine Enttäuschung bereitet der Espresso (3 €).


Anmerkungen zu Küchenkultur
 
Historisch waren regionale Küchenkulturen Normalität. Nur Eliten lebten in anderen Welten, was auch ihre Küchen bzw. Esskultur betraf. In der Gegenwart weiter Kulturräume sind menschliche Lebenswelten mehr oder weniger global geprägt sowie Fast Food und Fertiggerichte Normalität. Exotische oder cross-kulturelle Küchenkulturen können selbstverständlich reizvoll sein, aber sie reiben sich mit Prinzipien von Nachhaltigkeit, die uns individuelle Verantwortung für die eigene Lebenswelt abverlangt und Regionalität fordert.
 
Gemäß Konzept von Regionalität wird gekocht, was in der Region heimisch ist und Jahreszeiten in der Region gerade mehr oder weniger zufällig hergeben. Das ist in traditionellen Küchen nicht anders. Regionale Küchen mit Qualitätsanspruch unterscheiden sich von durchschnittlichen Alltagsküchen durch die sorgfältige Auswahl von Produkten sorgfältiger Produzenten unter Beachtung gesundheitlicher Aspekte sowie durch die Art der Verarbeitung von Produkten, die nicht Traditionen wie bei Muttern, sondern Eigenschaften, Aromen, Texturen von Produkten verpflichtet ist, alle essbaren Teile verwendet, nicht essbare Teile kompostiert sowie Verschwendung und nicht kompostierbare Abfälle vermeidet.
 
Qualitätsbewusstes Einkaufen, Kochen, Essen hat in der Breite bereits Wolfram Siebeck vermittelt. Seine Vorstellungen guter Küche auf Basis hochwertiger Produkte bereicherten und revolutionierten traditionelle heimische Küchen- und Esskultur. Inzwischen muss sich deutsche Küche nicht mehr verstecken. An dieser Entwicklung nahmen sicherlich nicht alle individuellen Küchen teil und schon gar nicht Küchen in prekären Lebensbedingungen, jedoch Küchen jener Menschen, die nicht nur instinkt- bzw. gewohnheitsgetrieben oder ausschließlich aus Gründen von Energiezufuhr essen, sondern Essen als Genusskultur auffassen, Nachhaltigkeit praktizieren, Qualität von Produkten wertschätzen und sich um Produkten angemessene und deren Wert steigernde Methoden der Zubereitung bemühen. Bewusstsein und Haltungen zu Produkten, Ernährung, biologischen Kreisläufen und Auswirkungen ignoranter Verhaltensweisen setzen keine Reichtümer und kein Hochschulstudium oder Abitur voraus, aber sie korrelieren mit Bildung im Kontext von Lebensbedingungen. 
 
Kreativität ist eine Ausprägung von Intelligenz, über die jeder Mensch mehr oder weniger verfügt, weil ein Überleben in komplexer Umgebung anders nicht möglich wäre. Verfeinerte Methoden der Produktion und Verarbeitung von Lebensmitteln sowie kunstvolles Anrichten von Gerichten auf Tellern und Platten oder in Schüsseln sind Handwerk. Handwerk benötigt Erfahrung von Spezialisten, die ihre Fähigkeiten in langen Lernprozessen erworben haben. Nachhaltiges professionelles Handwerk von Landwirtschaft und Küchenkultur bilden Fundamente erfolgreicher Restaurants. Dieses Handwerk übertrifft durchschnittliche Fähigkeiten von Nicht-Spezialisten bei weitem und erhält darum völlig zu Recht honorierte Wertschätzung. 


Anmerkungen zum Heimatbegriff

Heimat bezeichnet als Begriff ein diffuses Assoziationsfeld menschlicher Raumbeziehungen und -orientierungen, die je nach Intention und Kontext mit variierenden Bedeutungen und Definitionen belegt sind. Auf die schillernde Vieldeutigkeit des Heimatbegriffs verweist der Wikipedia-Eintrag Heimat. Uneindeutigkeit, Klischeehaftigkeit und politische Kontaminierung haben den Begriff weitgehend verschlissen und machen ihn zur Benennung konkreter empirischer Sachverhalte unbrauchbar. Darum gestattet er individuell beliebig variierende, aber substanziell wertlose Konnotationen.

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