Während unseres Aufenthalts in Weilheim in Oberbayern berichten Medien, dass Brian Wilson, kreativer Kopf der US-Band The Beach Boys, am 11.06.2025 und der Maler und Objektkünstler Günther Uecker am 10.06.2025 verstorben sind. Mit Ueckers Name ist untrennbar das Düsseldorfer Underground-Lokal Creamcheese verbunden. Die Namen Wilson, Uecker, Creamcheese wecken intensive Erinnerungen der Jugendzeit, die einen rückblickenden Post verdienen.
Erstes Erwachen: Musik der Jugenzeit
Kindheit und frühe Jugendzeit machten mit populären Musikrichtungen bekannt: Kirchenmusik, Operetten, Marschmusik, Volkslieder, Schlager. Als Chormitglied eines Duisburger Jugendchors kamen Kunstlieder und Notenkenntnisse hinzu, weil vom Blatt gesungen wurde. Popmusik, Rockmusik, Blues waren unbekannte Genres. Erste Kontakte entstanden nach 8 Volksschuljahren 1964 mit Schulwechsel zum Aufbaugymnasium. Schulkameraden schwärmten für The Beatles, The Rolling Stones, Them, The Animals, The Kinks, The Who, The Doors. Namen von Bands haben zu dieser Zeit meistens mit 'The' begonnen. Die
Aussprache [ðə] erleichterte gymnasialer Englischunterricht, während das Erlernen einer Fremdsprache sich als schwer zu überwindende Hürde herausstellte.
Jugendmusik infiziert mich schnell. Schwer beeindruckt war ich von dem Stück My Generation der Band The Who, das von Jugendrebellion handelt und als Vorläufer von Punkrock gilt. Begeistert habe ich mich für The Beach Boys (Die Strandjungs), The Yardbirds (Die Knastbrüder), Cream, Jimi Hendrix, The Nice, Pink Floyd, King Crimson, Genesis, Yes, Gentle Giant, Van der Graaf Generator, Colosseum, Soft Machine. Musik der Beach Boys und der anderen aufgezählten Gruppen war fast gegensätzlich. The Beach Boys, drei Brüder und zwei Freunde aus kalifornischen Schulzeiten, kultivierten Harmoniegesang im Happy-Sound und waren mit ihren Texten über Surfen und Mädels regelmäßig in Hitparaden prominent platziert. Surfen stellte ich mir als eine großartige Aktivität vor. Nur einer der Beach Boys hat tatsächlich gesurft und Happiness nahme mit ihrem Erfolg ab. Im Gegenteil waren sie vor allem zerstritten und flüchteten in Drogenkonsum.

Jan Wiele in der FAZ, 12.06.2035: Ein Blatt im Wind
Klaus Walter in der Süddeutschen Zeitung: Einsam im Wind
Alle anderen genannten Gruppen zählten zum Lager progressiver Musik. Mitglieder waren oft studierte Musiker oder anders in der Kunstszene verwurzelt und befanden sich auf der Suche nach neuen musikalischen Ausdrucksformen. Ab 1967 setzte in der progessiven Musikszene ein fast unglaublicher Kreatitivitätsschub ein. Insbesondere The Nice, Pink Floyd, King Crimson, Genesis, Yes, Gentle Giant, Van der Graaf Generator, Colosseum, Soft Machine passten in keine gängige Schublade und etablierten neue Genres, die als Art Rock, Progressive Rock, Jazzrock bezeichnet wurden. Diese Art von Musik war nicht massenkompatibel, weshalb Bands schnelllebig waren und sich nach ihrer Formierung bald wieder auflösten oder umformierten oder ihren Stil veränderten. Jimi Hendrix, Cream, The Yardbirds spielten hochprofessionellen, harten und für Hitparaden ebenfall eher untauglichen Rock in der Tradition des R&B, aber deren Musik war zugänglicher und daher erfolgreicher. Erwähnte Formationen und ihre Persönlichkeiten gelten als die wichtigsten stilbildenden Musiker der Rockmusik und prägten nachfolgende Generationen. Aber auch hier war Schnelllebigkeit üblich. Erfolge von Helden der Szene endeten z.T. aufgrund von Drogenkonsum tödlich (u.a. Jimi Hendrix, Janis Joplin, Brian Jones, Jim Morrison, Keith Moon). Auch ohne Drogentod waren die meisten Bands kurzlebig. Cream bestand nur von 1966 bis 1968. Die erste Inkarnation der Yardbirds bestand von 1963 bis 1965 und löste sich 1968 endgültig auf. Die musikhistorisch bedeutendsten ehemaligen Bandmitglieder der Yardbirds waren Eric Clapton, Jeff Beck, Jimmy Page, Keith Relf. Sie gingen eigene Wege und errichteten bis heute gültige Meilensteine der Rockmusik.
Der italienische Regisseur Michelangelo Antonioni wollte in einer Szene seines Films Blow Up (1966) eigentlich The Who auftreten lassen, die jedoch kein Interesse hatten. Stattdessen engagierte er The Yardbirds mit Keith Relf (Gesang) sowie an Gitarren Jimmy Page und Jeff Beck, der in Vertretung von Pete Townshend (The Who) am Ende der Szene seine Gitarre zertrümmert.
Ein anderer Film, das experimentelle low budget Roadmovie Easy Rider von Peter Fonda und Dennis Hopper (1969) faszinierte mich wegen seines Soundtracks und seiner rebellischen Helden. Den gesamten Film durchzieht drogengeschwängerte psychodelische Musik, die insbesondere in den USA angesagt war. Fonda und Hopper übernahmen selbst die Hauptrollen. Sie cruisen mit umgebauten Harleys auf der Suche nach einem lebenswerten Amerika auf der legendären Route 66 durch Arizona, Kalifornien, New Mexico, besuchen eine Hippie-Kommune, werden von der Polizei schikaniert, nachts von ländlichen Bewohnern überfallen und verprügelt und zuletzt im Südwesten der USA von radikalen weißen Südstaatlern erschossen. Der Film entstand zur Zeit des Vietnamkriegs und war in den USA kein Erfolg, weil er unkontrollierte Gewalt US-amerikanischer Kultur implizit kritisiert. Ähnlich erging es dem im Südwesten der USA spielenden und mit Soundtrack von Protestkultur unterlegtem Film Zabriskie Point (1970) von Michelangelo Antonioni, Regisseur des bereits erwähnten Films Blow Up. Der Film sympathisiert mit der Hippie-Bewegung. Er zeigt die USA als Alptraum der Entfremdung durch Konsumgesellschaft, Gewalt, ungehemmte Ausbeutung der Natur. In den USA wurde der Film ignoriert oder abgelehnt. Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich. Bilder beider Filme blieben immer präsent. Mehr als 40 Jahre später haben wir uns auf mehreren Reisen im Westen und Südwesten der USA ein eigenes Bild gemacht.
Aus der Ausgangssituation völliger Unbedarftheit habe ich mich bald zum Experten bevorzugter Musikrichtungen entwickelt. Für den Kauf von Schallplatten fehlte Geld, aber unter Schülern gab es regen Austausch. Abends und nachts habe ich per kleinem Transistorradio mit einem primitiven Kopfhörer auf Mittelwelle stark verrauschte Piratensender der Nordseeküste gehört, vor allem Radio Caroline und Radio Veronica, die Musik jenseits von Hitparaden und Mainstream spielten. Wann immer es möglich war, habe ich Live-Konzerte besucht. Eintrittspreise waren moderat und von Schülern oder Studenten zu bewältigen. Mit Erfahrungen erweiterten sich Hörgewohnheiten in Richtung Jazz, Klassik, Avantgarde-Musik, weil deutlich wurde, dass moderne Musikrichtungen keine wirklichen Neuerfindungen sind, sondern auf Traditionen zurückgehen und diese mit neuen Techniken neu interpretieren. Erheblichen Anteil an dieser Entwicklung hatte ein außergewöhnlich engagierter Musiklehrer unserer Schule und Flötist des Mülheimer Symphonieorchesters. Im Unterricht entschlüsselten wir mit Notenheften in der Hand nicht nur Hörbeispiele komplexer historischer Musikwerke, sondern auch elektronische Musik der Gegenwart. Die Beschäftigung mit Karlheinz Stockhausens Komposition Gesang der Jünglinge im Feuerofen war ein Schlüsselerlebnis, das Naivität der eigenen Wahrnehmung bewusst machte und neue Zugänge zur Musik öffnete. Am spannenden Musikunterricht beteiligten sich nur wenige Schüler unserer Klasse aktiv.
Zweites Erwachen: Entdeckung moderner und alter Kunst
Familiäre Sozialisation vermittelte bezüglich Kunst wenig Neugier. Die Familie besucht nie Theater, Opernhäuser, Kinos. Als Kunst ging nur klassische realistische Malerei durch. Vermutlich von Diffamierungen durch NS-Propaganda beeinflusst, galten moderne Richtungen des frühen 20. Jahrhunderts als verzerrende und darum abzulehnende Darstellungen der Realität. Abstrakter Kunst wurde generell jeder Anspruch auf Kunst abgesprochen und in Richtung Neurosen verstanden. NS-Zeit und Kriegserfahrungen habe ich glücklicherweise nicht erleben müssen, aber ich habe mich mit der Historie intensiv befasst und verstanden, dass Vorgängergenerationen Erfahrungen nicht rückstandsfrei verdauen können und Erfahrungen je nach Intensität mehr oder weniger tiefe Spuren hinterlassen. Terror der NS-Zeit und der Zweite Weltkrieg haben die meisten unsere Vorgänger stark traumatisiert. Traumata wurden nicht aufgearbeitet, sondern möglichst verdrängt. Abwehrende Haltungen gegenüber moderner Kunst haben mich nicht abgeschreckt, sondern im Gegenteil mit Erreichen der gymnasialen Oberstufe mein Interesse verstärkt.
Kunstlehrer unserer Oberstufenklasse war ein Student im höheren Semester der Kunstakademie Düsseldorf, der mein Interesse an moderner Kunst verstärkte und mir zu Spitzennoten verhalf. Eigene Erfolge haben mein Interesse so weit geweckt, dass ich zeitweilig an ein Kunststudium dachte, weil auch mein Kunstlehrer ein Studium an der Kunstakademie Düsseldorf empfahl. Schließlich habe ich mich für Sozialwissenschaften entschieden. Von diesem Studium versprach ich mir einen größeren Erkenntnisgewinn, und Konflikte an der Kunstakademie schreckten mich ab. Zeitgleich mit moderner Malerei entdeckte ich Theater und Filmkunst. Schauspielhäuser in Duisburg und Oberhausen besuchte ich regelmäßig mit selbständiger Vorbereitung, was zu dieser Zeit für Schüler ein preiswertes Vergnügen, aber unüblich war. Günstig waren auch Besuche von Programmkinos und Filmfestivals, wie die Oberhausener Kurzfilmtage. Interesse an Kunst der Gegenwart und an historische Kunst verstärken sich wechselseitig. Mit zunehmendem Interesse an Kunst der Gegenwart nimmt das Interesse an historische Wurzeln von Gegenwartskunst zu. Mit der Erschließung historischer Kunst öffnet sich Zugänglichkeit zu Kunst der Gegenwart.
Meine damalige Schule wurde um 1968 im Außenbereich mit dem Kunstobjekt einer aus veknäulten Edelstahlstäben bestehenden abstrakten Raumplastik von Norbert Kricke ausgestattet (Große Fließende, von der Kricke mehrere Versionen erstellt hat). Ich erinnere mich nicht, wie diese Entscheidung zustande kam, aber ich erinnere mich an deutliche Ablehnung des Objekts von Schüler- und von Lehrerseite. Ablehnung verstärkte mein Interesse. In Gesprächen mit dem Kunstlehrer erfuhr ich, dass an der Kunstakademie Düsseldorf harte Auseinandersetzungen zwischen Norbert Kricke und Joseph Beuys ausgetragen wurden. Diese Auseinandersetzung wird erst mit vertiefender Betrachtung verständlich. Der exemplarische Charakter dieses Konflikts rechtfertigt eine ausführlichere Darstellung,
Beuys-Kricke-Konflikt
Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Kunst als deutendes Narrativ aufgefasst, das sich mit metaphorischen und symbolhaften Darstellungen in den Dienst religiöser, naturhafter, spiritueller Weltverständnisse stellte. Im 20. Jahrhundert löste sich Kunst qua Abstraktion von deutender Symbolik und entwickelte auf Ästhetik fokussierende Ausdrucksformen, die keine inhaltlichen Deutungen von Symbolen zulassen, sondern durch Verschmelzungen von Farben und Strukturen von Nutzen befreite emotionale Wahrnehmungsmuster ansprach. Kunst der Künstlergruppe ZERO und ähnliche Bewegungen des Minimalismus radikalisierten diesen Ansatz, indem sie Formen und Farben auf einen vermeintlichen Kern reduzierten, z.B. als monochrome Flächen. Norbert Kricke dachte ähnlich, aber nicht flächig, sondern räumlich und nutzte Räumlichkeit zur Darstellung von Mustern, die sich nicht bewegten, aber Eindrücke von Ordnungsprinzipen befreiter fließender Bewegungen vermittelten. Zu dieser Zeit aufkommende kinetische Objekte radikalisierten solche Konzept. Vermutlich verfolgte Günther Uecker mit seinen überwiegend weißen Nagelreliefs ein ähnliches Konzept, das aber Räumlichkeit zugunsten von Flächigkeit reduzierte und so für geübte Sehgewohnheiten zugänglicher wird. Interessanterweise teilte Musik parallel mit elektronisch erzeugten seriellen Mustern ähnliche Entwicklungen.
Zugang zu Entwicklungen dieser Formensprache von Kunst fanden nur speziell interessierte Menschen des Bildungsbürgertums. Für die meisten Menschen der breiten Bevölkerung blieb diese Art von Kunst unverständlich. Moderne Kunst galt überwiegend als nutzlos, sinnlos, elitär. Gegen moderne abstrakte Kunst entwickelte Joseph Beuys ein als soziale Plastik deklariertes alternatives Konzept eines erweiterten Kunstbegriffs. Vorreiter war die Fluxus- Bewegung, die sich mit Performances und Happenings vom Kunstverständnis als elitäre Hochkultur distanzierte und mit Aktionskunst Kunst und Leben als Einheit propagierte. Unter Einflüssen anthroposophischer Ideen sah Beuys in Kunst Potenziale für gesellschaftliche Veränderungen. Er schloss sich der Bewegung an und wurde zu einem ihrer bedeutendsten Vertreter. Beuys wollte einen breiten Zugang zu Kunst öffnen und zugleich auf sich zunehmend verstärkendes materialistisches, konsumorientiertes Denken Einfluss nehmen. Mit Performances und starken Symbolen wollte er auf individuelles Bewusstsein einwirkende spirituelle Kräfte freisetzen, um im Ergebnis verändernde Wirkungen auf gesamtgesellschaftliche Denk- und Verhaltensweisen zu bewirken. Aktionen und Objekte seiner Kunst interpretierte Beuys nicht, sondern verstand sie als symbolisch verrätselte Allegorien auf das Rätsel des Lebens, das jeder für sich lösen muss.
Für Norbert Kricke war Joseph Beuys Kunstverständnis Verrat an moderner Kunst und Rückfall in von Kunst längst abgelöstes reaktionäres Denken. "Kricke missfiel dessen priesterlicher Habitus und das Konzept der „sozialen Plastik“, das „alle Menschen“ zu Künstlern ernennt" (Deutschlandfunk: Kricke versus Beuys). In öffentlichen Stellungnahmen warf er Beuys "Jesus-Kitsch" vor. In einem Beitrag der Wochenzeitung ZEIT vom 20.12.1968 erläuterte Kricke seinen Standpunkt (Zitate lt. Blog Arte Concreta von Lars Hauschild: Norbert Kricke und die geistige Heimat von Joseph Beuys):
"Kunst bringt Neues. Beuys bringt Altes." [...] " [...] das ist sein Anspruch: Vertreter im Leiden, er spielt den Messias, er will uns bekehren, er will die Akademie die Rolle der Kirchen übernehmen lassen – das ist für mich sein Jesu-Kitsch." [...] "in seinen Aktionen: Hasenschlachten, Blutgeschmiere ins Gesicht und an die Wände, und zum Hasen selbst verwandelt nimmt Kontakt er auf zum „Geist“. Spiritismus und Beschwörung, Opferszenen vor den Heiden, all dieses ist Ausdruck seiner Sehnsucht nach Vergangenheit, die ihn befreit vom Druck und der Bedrohung, wie er sie durch die Gegenwart zu erfahren glaubt. Er kommt vom linken Niederrhein, der auch seine geistige Heimat geblieben ist."
"Angst scheint seine Triebkraft zu sein, sie sitzt tief und überall bei ihm: Technik ist böse, Heute ist böse, Autos sind schrecklich, Computer unmenschlich, Fernseher auch, Raketen sind furchtbar, Atome gespalten zerrütten die Welt. Flucht in das Gestern, Besserung der Menschen, Sehnsucht nach rückwärts: altes Gerät, Kordeln mit Gebündeltem, Staub und Filz, Befettetes, Wachs und Holz, mürbes Gewebe, Trockenes und Geschmolzenes, alles serviert er grau, braun und schwarz wie dunkel gewordene alte Gemälde, Museumsstaub, Museumsgeruch an allen Objekten schon bei der Entstehung, dämmerig und wenig belüftet die Welt seiner Dinge; dauerndes Spiel, Versteck im Versteck, Wachs auf der Kiste, Fett im Eck, in den Teppichrollen qualvoll lange drinnen bleiben: Er nimmt es auf sich für uns alle. Das ist sein Anspruch: Vertreter im Leiden, er spielt den Messias, er will uns bekehren, er will die Akademie die Rolle der Kirchen übernehmen lassen – das ist für mich sein Jesu-Kitsch."

Damals
befand ich mich auf der Flucht von pietistischer Sozialisation und
konnte mich für Beuys Spiritualität nicht begeistern, aber ich verstand
allmählich, dass Kunst in Bedingungen sozialer Strukturen verwickelt
ist, dass verschiedene Lager konträre Ansichten über Kunst vertreten und
dass Lager über Fragen der sozialen Rolle von Kunst mal mehr mal
weniger zerstritten sind. Heute sehe ich Beuys und die öffentliche Rolle
von Kunst anders. Gemäß eigenem Verständnis kann moderne Kunst in drei Rollen gesehen werden. In Salons und Museen ist sie vor allem dekorativ
und repräsentiert fetischisierte Ausdrucksformen und Moden vergangener Epochen, laszive Sinnlichkeit, bourgeoise
Weltläufigkeit. In weltanschaulichen Kontexten vermittelt Kunst weltanschauliche Dogmen oder übt Kritik an Dogmen. Moderne Kunst, die nicht oder nicht ausschließlich
dekorativ sein will und sich nicht politisch instrumentalisieren lässt, spielt implizit, d.h. nicht unbedingt intendiert, eine Rolle als eine Art von Seismograph für Erschütterungen in
Kulturräumen. Diese Kunst darf und soll unbequem sein, Fragen aufwerfen, Reibung
erzeugen, aufwecken, provizieren und sollte nicht formal eingehegt
werden.
Fragen zur Legitimierung von Kunst war ich zu dieser Zeit nicht gewachsen und richtete eigenes Interesse stärker auf leichter zugängliche dekorative Kunst der Künstlergruppe ZERO,
die einen von Vorgeschichte befreiten Zugang zur Kunst propagierte.
Damit konnte ich mich identifizieren. Inzwischen denke ich, dass sich
Geschichte nicht abschütteln lässt und werte aktive Auseinandersetzung
mit Geschichte als hilfreich, weil sie Fesseln lockert. Damals empfand ich
für Arbeiten von Heinz Mack, Otto Piene und
ihnen nahe stehende Künstler große Wertschätzung und betrachte diese
Werke noch immer gerne. Fasziniert haben mich jedoch vor allem Günther Ueckers Nagelreliefs,
deren Dynamik schwer zu beschreiben ist. Diese Objekte sind zugleich
Bild und Skulptur, geordnet und ungeordnet, statisch und dynamisch, weil
sie sich je nach Licht und Blickrichtung verändern und Bewegung
vermitteln, ohne sich zu bewegen. Günther Uecker öffnete einen für mich neuen Blick auf Kunst, der ein drittes Erwachen auslöste, den das abschließende Kapitel beschreibt.
Medienberichte und Nachrufe zu Günther Uecker:
- ZEIT-Interview mit Günther Uecker anlässlich seines 95. Geburtstags: "Tanzen tue ich auch gerne"
- Stefan Trinks in der FAZ, 11.06.2025: Die Kunst als Stachel in unseren Augen
- Till Briegleb in der SZ, 11.06.2025: Der mit dem Hammer malte
- NDR: Nagelkünstler Günther Uecker mit 95 Jahren gestorben
- Tagesschau: Nagelkünstler Günther Uecker ist gestorben
- Zero Foundation Günther Uecker
Moderne Kunst, die keine expliziten Botschaften vermittelt und nicht gefällig sein möchte, stößt überwiegend und nachvollziehbar auf Ablehnung. Gemäß Sender-Empfänger-Modell besteht Kommunikation aus Austausch von
Informationen via Medien über Wissen, Erkenntnisse, Erfahrungen, Gefühle zwischen Sendern und Empfängern. Sender
von Informationen antizipieren bzw. erwarten Reaktionen von Empfängern. Von Sendern erwartete oder erwünschte Reaktionen auf Seiten von Empfängern
beeinflussen die Art der Medien sowie die Art medialer Gestaltung von Informationen auf Seiten der
Sender. Das ist im Fall von Kunst prinzipiell nicht anders. Kunst ist selbstverständlich ein Kommunikationsmedium und will wahrgenommen werden. In ihrem Kern
besteht Kunst jedoch aus besonderen, von gewöhnlicher Kommunikation sich
absetzenden medialen Gestaltungsformen jenseits von Mainstream. Inhalte von Kunst sind offen für Deutungsmuster. Kunst vermittelt eine besondere Art von
Kommunikation
zwischen Künstlern bzw. deren Objekte und Rezipienten. Kommunikation von Kunst bietet keine Antworten. Sie stellt Fragen, die an Grenzen von Verständnishorizonten rütteln.
Gegenstände von Kunst beschränken sich nicht auf Malerei, Skulpturen,
Raumobjekte, sondern umfassen auch Sprache (Poesie), Textilkunst, Tanz
sowie dekonstruktivistische Architektur,
in der nicht allein Funktion die Ästhetik bestimmt, sondern komplexe
Formen und Materialkombinationen eine eigene Ästhetik zeigen, die in
der Außensicht funktionale Zusammenhänge auflöst bzw. verbirgt. Zentral
für jede Kunstform sind kommunikative Anliegen, in denen es nicht um
Übermittlung von Sachinformation geht, sondern Kommunikation durch Ästhetisierung, Verschüsselung, Verrätselung zur Kunstform wird. Erwähnenswert sind parallele Entwicklungen in verschiedenen Kunstformen und nicht nur bei materiellen sondern auch immateriellen Kunstformen wie Tanz und Musik, z.B. bei Karlheinz Stockhausen, John Cage, Luigi Nono, Mauricio Kagel, Steve Reich, Kraftwerk, Can, Tangerine Dream, Soft Machine, Wheater Report usw.
Vermitteln Kunstobjekte Botschaften? Jein! Ob oder welche Botschaften Kunst kommuniziert, entscheiden Betrachter überwiegend implizit. Je nach Perspektive schmeicheln oder provozieren Kunstobjekte oder lassen gleichgültig. Anders als kunsthandwerkliche Dekorationen, Designobjekte oder Gebrauchskunst für religöse oder politische Räume wird Kunst darum zu Kunst, weil sie sich keinen Zwängen von Nützlichkeit unterwirft und Anerkennung um ihrer selbst willen fordert. Sie vermittelt kein Weltverständnis und verlangt keine Deutungen, sondern ist deutungsoffen. Zugleich erzeugt sie jedoch Spannung und Reibung, die zu Fragen anregen, ohne Antworten vorzugeben. Sie überlässt Betrachtern, wie sie Objekte wahrnehmen, ob sie rationale Zugänge oder emotionale Empfindungen bevorzugen. Antworten auf die Frage, ob das Kunst ist, bleibt Betrachtern überlassen. Je nachdem, ob und wie Betrachter sich auf diese Art von Kommunikation einlassen können und wollen, werden sie Kunst wahrnehmen oder eher für Entsorgung plädieren.
Drittes Erwachen: Gesamtkunstwerk Creamcheese
Bereits Dadaismus experimentierte mit neuen Kunstformen, die mehrere Kunstarten verknüpften. Da Dadaismus in der NS-Zeit unterdrückt wurde, war diese Entwicklung zunächst unterbrochen und nahm erst wieder ab den 1950er Jahren Fahrt auf. Fluxus, Performances, Happenings entwickelten eine eigene Art von Kunst, die jenseits musealer Kunst verschiedene Kunstformen verbindet: Bewegung, Sprache, Musik, Licht, Malerei sowie vorgefundene Alltagsgegenstände, die als Ready-mades bzw. als Objet trouvé durch symbolische Überhöhung mittels Kontextbezügen zu Kunstgegenständen werden.

„Ich will eine Gesellschaft auf der Flucht vor sich selbst am Ort ihrer Wünsche zeigen“,
„Licht, Terror, Blitz, Aktion, Schall, Stille“ und „Neue Wirklichkeiten: Neue Möglichkeiten”.
„Wir überleben nicht. Wir erleben.”
„Kunst ist Unterhaltung.”
„Machen Sie sich frei… Seien Sie selbst“.
Für die Gestaltung des Lokals konnte Günther Uecker weitere Künstler der Düsseldorfer Szene gewinnen. Als Namen des Clubs übernahm Günther Uecker den Namen der fiktiven Frauenfigur Suzy Creamcheese auf Alben von Frank Zappa.
Günther Uecker und Frank Zappa haben sich in den USA persönlich
kennengelernt. Wenn Frank Zappa im Raum Düsseldorf Konzerte gab,
besuchte er das Creamcheese. Im Vorraum begrüßten Besucher das Gemälde PIN UP eines liegenden Mädchens von Gerhard Richter und eine Installation von Nam June Paik mit 24 flimmernden Fernsehern, in denen sich Besucher sahen. Heinz Mack entwarf eine 20 Meter lange Theke mit Spiegel-Lamellen-Rückwand. Weitere Kunstwerke waren im gesamten Lokal verteilt, u.a. über der Theke eine abgehängte Thekeninstallation von Daniel Spoerri. Besucher konnten auf einem mehrstufigen Podest Platz nemen.
Hinter der Theke bedienten Blinky Palermo, Imi Knoebel, Katharina Sieverding, Schüler von Beuys, die sich später als Künstler durchsetzen konnten. Das Podest einer Bühne wurde multifunkional genutzt. Wenn keine der damals angesagtesten Bands live spielte, keine Künstler-Performances und keine Theateraufführungen stattfand, war die Bühne Tanzfläche. Über der Tanzfläche agierte ein DJ, der angesagte Schallplatten 'progressiver' Musik in langen Versionen auflegte (u.a. Light my Fire (The Doors), I'm a Man (Chicago), Born to Be Wild (Steppenwolf), When I Was Young (The Animals), In-A-Gadda-Da-Vida (Iron Butterly), On The Road Again (Canned Heat) etc.) und so laut abspielte, dass keine Unterhaltung möglich war. In Intervallen wurde regelmäßig Stroboskoplicht eingeschaltet, das Bewegungen der Tanzenden optisch zerhackte. Günther Uecker, Joseph Beuys und Anatol Herzfeld waren Stammgäste. Zahlreiche andere prominente Gäste ließen sich sehen, wenn sie sich im Raum Düsseldorf aufhielten.
Den laufenden Betrieb führte das Gastronomen-Ehepaar Bim und Hans-Joachim Reinert. Hans-Joachim stand allabendlich mit langem Ledermamtel und einer Schaffnertasche vor der Tür. Der Einlass wurde nicht restriktiv gehandhabt, aber einfach nur gucken war nicht möglich. Wer hineinwollte, musste Verzehrbons lösen. Wenn ich mich richtig erinnere, waren das 4 Bons für 4 DM, die man z.B. für 4 Gläser Düsseldorfer Altbier einlösen konnte. Das waren soziale Preise, über die man sich heute nur wundern kann. In gewöhnlichen Kneipen kostete ein Glas Bier 50 Pfennig, also ca. 1/10 des heutigen Kneipenpreises. Über Alkohol und Tabak hinaus wurden im Creamcheese auch illegale Drogen
konsumiert, aber weniger auffällig als in niederländischen Clubs. Es
mag sein, dass ich davon wenig mitbekommen habe, weil mich diese Drogen nicht
interessierten. Geruch von Cannabis lag jedoch immer in der Luft.
1976 zog das Lokal um und konnte am neuen Ort nicht mehr an Erfolge anknüpfen, sodass die Creamcheese-Geschichte nach 10 Jahren endete. Die Wirkmächtigkeit des Auftritts verdeutlichen Ausstellungen zur Creamcheese-Legende im New Yorker Guggenheim-Museum, in der Tate Gallery London und Liverpool sowie im Frankfurter Schirn. Seit 2023 ist das Creamcheese als Creamcheese-Raum im Düsseldorfer Kunstpalast mit Original-Inventar museal rekonstruiert (WDR: Kult-Club "Cremcheese" ist wieder da). Die Erinnerungswürdigkeit des Clubs pflegt der Düsseldorfer Verein Creamcheese e.V.: Creamcheese Gesamtkunstwerk.
Eigene Besuche blieben zu eigenem Bedauern wegen ca. 40 km Distanz zum damaligen Wohnsitz spärlich, aber diese wenigen Besuche reichten aus, um die eigene Haltung zu morderner Kunst nachhaltig zu verändern.
Quellen und Medienberichte
- Wikipedia: Creamcheese
- LVR KuLaDig: Ines Müller (2024): „Club Creamcheese in der Düsseldorfer Altstadt”. In: KuLaDig, Kultur.Landschaft.Digital. URL: https://www.kuladig.de/Objektansicht/KLD-355437 (Abgerufen: 15. Juni 2025)
- Creamcheese-Raum im Kunstpalast Düsseldorf
- WDR Kult-Club "Cremcheese" ist wieder da
- Creamcheese e.V. Creamcheese Gesamtkunstwerk
- Google Arts & Culture Soundlabor der 1960er und 1970er:Creamcheese
- Google Arts & Culture Creamcheese Manifest
- Düsseldorf Blog Guenther Uecker schwärmt vom Creemcheese
- The Guardian Düsseldorfer Disco kommt ins Guggenheim N.Y.
- Schirn Kunst ist Unterhaltung ist Pop ist Creamcheese
Viertes Erwachen: Zuwachs von Erkenntnis
Ein
weiteres Erwachen ist dem Studium von Sozialwissenschaften zu
verdanken. Das ist jedoch eine andere Geschichte, die zwar
Berühungspunkte zu Kunst aufweist, aber mit dem Chreamcheese nichts mehr zu tun hat. Kunst versteht Soziologie abstrakt als soziales Phänomen. Das ist kein Thema dieses Posts.
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