Dienstag, 12. Juni 2012

documenta 13 - Motorgetriebene Gebetsmühlen, Suche nach verschwundenem Blut und Ausstellung autodestruktiver Kunst in der documenta-Halle

Sternmotor / Monstranz
documenta-Halle mit Werken von Thomas Bayrle
Im Erdgeschoss der documenta-Halle stellt im größten Raum Thomas Bayrle seine Werke aus. Aufsehen erregen vor allem seine betenden Motoren. Ein aufgeschnittener Moto Guzzi-Zweizylindermotor, ein Porsche-Sechszylindermotor sowie zwei Neunzylinder-Sternmotoren beten den  Rosenkranz oder andere liturgische Litaneien.
Die aufgeschnittenen Motoren zeigen ihr Innenleben um den Preis des Verlustes ihrer Funktionsfähigkeit. Dass Kolben, Pleuel und Ventile sich trotzdem im Takt bewegen, verdanken die Motoren elektrischen Hilfsmotoren. Motorengeräusche und Litaneien kommen aus der Konserve. Ästhetisch eindrucksvoll ist diese Motorenanatomie im Kontext einer Kunsthalle allemal. Aber was will sie uns sagen? Link: Diashow Fotos 'dokumenta-Halle'


In einem Interview des Hessischen Rundfunk erklärt Thomas Bayrle am 10.06.2012:
"Ich traue mich diesmal etwas, das ich schon lange mit mir rumgetragen habe: Ich habe vor 45 Jahren ja schon einmal Maschinen gebaut. Das maschinenhafte hat mich immer interessiert. Es kommt aus meiner Zeit als Weber, als ich im Praktikum in Süddeutschland in der Fabrik gearbeitet habe. Und das greife ich jetzt wieder auf. Ich will verdeutlichen, dass ich die Gegensätze nicht teile, dass sich Meditation und Maschinenwelt ausschließen. Das ist ja schon durch die Techno-Szene widerlegt. Es liegt nah beieinander, es vermischt sich. Es berührt sich. 

Mir geht es dabei auch nicht um Späßchen oder so. Es geht mir darum zu zeigen, dass die Maschinenrealität nicht gut oder schlecht, sondern eine historisch gewachsene Realität in Europa ist. Sie ist aus der Gotik entstanden. In der Gotik sind die Dome zum ersten Mal an verschiedenen Bauplätzen entstanden. Vorher gab es eine Bauhütte, die an einer Stelle war. In der Gotik fängt die Arbeitsteilung in verschiedene Funktionen und das Zueinanderführen von Fertigteilen an. Heute erfährt das in der Autoindustrie eine besonders deutliche Metapher – daher die Motoren." 


Motoren als Verweis auf eine Metapher für arbeitsteilige Produktion von der Gotik bis zur Autoindustrie zu betrachten, ist originell und eigenwillig, aber wenig plausibel und schon gar nicht zwingend, sondern zunächst eher befremdend. Filz und Fettecken haben für Joseph Beuys eine ähnliche Bedeutung wie Maschinen und Motoren für Thomas Bayrle: als Symbole bilden sie ein Kondensat subjektiver Erfahrung.

Assoziationen stellen sich ungerufen ein und sind nicht zu widerlegen. Sie gehören der subjektiven Wahrnehmung. Während Joseph Beuys in einer schamanisch, esotorischen Weltsicht eine gewisse Allgemeingültigkeit seiner Symbole reklamiert, die sich allerdings einer kulturell überformten Wahrnehmung nicht leicht erschließt, bleibt Thomas Bayrle vorsichtig. Ob und welche Relevanz die eigene Wahrnehmung für Andere hat, lässt sich nicht vorgeben, sondern bestenfalls empfehlen. Thomas Bayrle erläutert seine Motivation und liefert Argumente für seine Sichtweise, die man teilen oder ablehnen kann.

Thomas Bayrle, Flugzeug
Thomas Bayrle, Flugzeug (Details)
Nicht alle ausgestellten Arbeiten sind neu. Das aus vielen kleinen Miniaturflugzeugen zusammengesetzte große Flugzeug ist vor 30 Jahren entstanden.









Die gegenüberliegende Wand füllt das monumentale Papprelief 'Carmageddon', das Rätsel aufgibt. Rose-Maria Gropp weiß mehr. In einem Artikel der FAZ vom 5.06.2012 erfahren wir:

Thomas Bayrle, Carmageddon
Thomas Bayrle, Carmageddon (Details)
"Sein Titel „Carmageddon“ verweist auf ein Computerspiel mit tödlich rasenden Boliden und ist zugleich der Begriff für den ständig drohenden Verkehrsinfarkt in Los Angeles. Collagiert aus mehr als 150 Modulen, die zwei plastische Autobahnelemente in vielfach wiederholter Form des liegenden „S“, jenes Zeichens für Unendlichkeit, bilden, funktioniert dieses graue Menetekel als eine schallschluckende Mauer, Verbildlichung einer Bewegung ohne Anfang und Ende." Aha, alles klar! So ist ist das also.

 

'In Search of Vanished Blood' - Nanani Malani

Als 'Video/Schattenspiel' bezeichnet die pakistanische Künlerin Nalani Malani ihre Installation in einem kleinen Raum, der wie eine Abstellkammer hinter der Halle mit den Arbeiten Thomas Bayrles wirkt. Nanani Malanis Installation wirkt auf dem ersten Blick weniger spektakulär als Thomas Bayrles motorgetriebene Gebetsmühlen, wer sich jedoch auf diese Installation einlässt, begibt sich auf den spannenden Parcours einer audiovisuell interpretierten literarischen Klanglandschaft.



Der Titel 'In Search of Vanished Blood' zitiert das Gedicht 'Das Schattenbild des Rebellen' des pakistanischen Dichters Faiz Ahmed Faiz. Malanis Arbeit bezieht sich darüber hinaus auf Christa Wolfs "Kassandra" und Rainer Maria Rilkes Roman "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge". Für die Klanglandschaft entlehnte Malani Passagen aus Heiner Müllers "Hamletmaschine", aus Samuel Becketts "Das letzte Band" sowie aus Mahasweta Devis Kurzgeschichte "Draupadi".


Autodestruktive Kunst von Ludwig Metzger

Gemälde von Ludwig Metzger
Verdeckte Vitrinen mit 'Steel Paintings'
Im Erdgeschoss sind etliche, mit Tüchern verhüllte Vitrinen aufgestellt. Was beim Anheben der Tücher zu erblicken ist, wirkt unspektakulär, ist aber durchaus spannend. In den Vitrinen sind 'Steel Paintings' des uns bisher unbekannten Künstlers Gustav Metzger präsentiert. Bei genauerer Betrachtung ergibt sich das Bild einer hoch interessanten Persönlichkeit mit radikalen Ansichten, die auch Eingang in Arbeiten dieses Künstlers gefunden haben. 
Gustav Metzger ist in einer orthodoxen jüdischen Familie aufgewachsen. Eltern und Geschwister sind umgebracht worden, während er durch eine Rettungsaktion des 'Refugee Children Movements' in England überlebte und dort Kunst studieren konnte. Das Destruktionspotenzial des 20. Jahrhundert macht Gustav Metzger aufmerksam auf Destruktion als Prinzip von Kunst. Er entwickelt Ideen einer "autodestruktiven Kunst", zu der wir ein Statement von ihm finden:
"Das Verschwinden ist eben ein Zeichen der Möglichkeit, dass wir nicht immer nur wachsen müssen. Das Verschwinden ist symbolhaft für das, was sein sollte. Dass man Verständnis hat für Leben ohne endloses Wachstum."
Mit den in den 50er Jahren erstellten 'Steel Paintings' realisiert Gustav Metzger "autodestruktive" Arbeiten. Von den verwendeten Materialien seiner Werke muss sich innerhalb von 20 Jahren eines selbst zerstören und damit das Kunstwerk verändern. 
Ludwig Metzgers Arbeiten stehen natürlich in einem krassen Gegensatz zu einer Kunst, die Dauerhaftes erschaffen will. Ludwig Metzgers Gedanken erscheinen jedoch in der Gegenwart aktueller denn je. Sie sind visionär.


'Limited Art Project' von Yan Lei

Yan Lei, "Limited Art Project"
Yan Lei, "Limited Art Project"
Yan Lei hat im VW-Werk Baunatal mit Assistenten 360 Bilder erstellt, die von der Decke abhängen, die Wände tapezieren und in einem Gemäldeschrank präsentiert werden. Im Verlauf von 100 Tagen werden die Bilder sukzessive mit Autolack übermalt und verwandeln so den Raum allmählich in eine Ausstellung monochromer Bilder. Die Deutung wird gleich mitgeliefert: Laut Beschreibung thematisiert das Projekt die Allmacht der Bilder im digitalen Zeitalter.
Hm, hätte ich nicht gedacht. Interessant, aber weniger überzeugend als eine weitere Deutungsebene die hier sichtbar gemacht wird, nämlich die Allmacht der Autoindustrie. Gesponsert wird diese Arbeit nämlich vom VW-Werk, das sich offensichtlich positive Effekte für sein 'Branding' verspricht.



Leinwandarbeiten von Julie Mehretu

Im Ergeschoss der documenta-Halle sind vier großformatige Arbeiten der äthiopischen Künstlerin Julie Mehretu gehängt. Die Leinwände sind mit Tinte und Acryl bearbeitet und verweisen auf revolutionäre Plätze, wie den Tahrir-Platz oder auf revolutionäre Poster und Science-Fiction-Bucheinbände.























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